Nichts wollen. Nichts hoffen. Nichts fürchten.

Alice Buddeberg inszeniert scheinbar mühelos Tschechows "Möwe" am Hamburger Schauspielhaus

Unglücklich im Stroh - Sommerfrische mit Musik (Bild: © Kerstin Schomburg)

Über die gesamte Por­tal­bre­ite und ‑höhe verteilen sich die Stro­hballen, die man son­st im Herb­st auf abgeern­teten Feldern herum­liegen sieht. Dazwis­chen, davor und teil­weise dahin­ter verteilen sich die Gäste der Som­mer­frische. Stand­bild. Stille. Langeweile.

Poli­na im geblümten Som­merkleid fol­gt schlen­dernd ihrem Gat­ten und Gutsver­wal­ter Ilja. Einen um den anderen Stro­hhalm begutachtet er genau, um ihn dann an den richti­gen Ballen peni­bel zurück zu sortieren. Schein­bar inbrün­stig betra­chtet sie die von ihm in die Höhe gestreck­ten Halme. Um dann hin­ter seinem Rück­en wieder welche aus den Ballen zu zupfen. Damit Ilja eine Auf­gabe hat — und sie ihre Ruhe. Sie hat ihr Herz längst an Dorn ver­loren, den Arzt, den Lebe­mann, der res­ig­na­tiv ablehnt, als sie ein neues Leben mit ihm begin­nen will. Was nicht heißt, dass er später, wenn ihn etwas aus der Bahn wirft, nicht wie ein kleines Kind den Kopf in ihrem Schoß ver­gräbt.

In das Wartez­im­mer des Som­mers hinein springt Kost­ja mit­ten aus dem Pub­likum, es kat­a­pul­tiert ihn förm­lich aus dem Sitz, und er ruft: “Man müsste doch ein­fach mal was tun!” Kost­ja, ein zit­tern­der Pen­näler im braunen Anzug, ist der einzige der etwas will an diesem Nach­mit­tag. Sein Stück aufge­führt sehen vor dem Som­mer­frische-Pub­likum, gespielt von der schö­nen jun­gen Nina, die er heiß und verzweifelt liebt. Doch — und das merkt man bald — hat man in dieser Fam­i­lie nichts zu wollen. Das wird einem schle­u­nigst aus­getrieben. Und wer doch noch etwas will, jeman­den liebt, der ihm nicht zuste­ht oder sich für einen anderen ein­set­zt, der hat das schle­u­nigst zu unter­lassen. Der hat sich diese Liebe aus dem Herzen zu reißen mit Stumpf und Stiel.

Gelang­weilte sind sie, verzweifelt Sinn-Suchende, unglück­lich Liebende, sich im Kreis Drehende, die Fig­uren Tsche­chows. Ein Motor in ihrer Mitte, Schaus­pielerin Arkad­i­na, ein grausames Raubti­er. In knap­pen Jeans-Shorts und weißer Bluse, ihr Gespiele Trig­orin mit dem Stro­hhalm zwis­chen den Lip­pen, so ruhen sie Rück­en an Rück­en.

Nichts kann sie auseinan­der brin­gen, so denkt man. Schon gar nicht eine kleine Land­pomer­anze, die Schaus­pielerin wer­den will, Nina heißt und unbe­holfen in weißer Her­ren-Unter­wäsche Kost­jas Monolog vorträgt, den sie nicht versteht.Auf einem Stro­hballen ste­ht sie, leicht wack­e­lig mit dem Rück­en zum Schaus­piel­haus-Pub­likum. Das wiederum hat dadurch die Möglichkeit, die Reak­tio­nen der Som­mer­frischler zu betra­cht­en: Von Span­nung über Irri­ta­tion, Unver­ständ­nis, Fas­sungslosigkeit bis hin zur Belus­ti­gung spielt das Ensem­ble sich durch die Beobach­tung, dass es ein Vergnü­gen ist.

Und damit sind wir ganz bei Tsche­chow: So tragisch diese Szene für Kost­ja und Nina, so amüsant, so großar­tig ist sie anzuse­hen. Regis­seurin Alice Bud­de­berg find­et die Komödie in Tsche­chows “Möwe”, ohne sie zu ver­flachen. Sie schafft ein Raum-Zeit-Kon­tin­u­um, indem sie alle Fig­uren immer auf der Bühne sein lässt. Und wie sie sich beobacht­en, alles voneinan­der wis­sen und das Leid der anderen ignori­eren, ist bit­ter­böse und tragisch. Natür­lich gibt es Aus­nah­men: Arkad­i­nas Brud­er Sorin, der seine Schwest­er anbrüllt: “So kannst du doch nicht mit jeman­dem umge­hen, der jung ist und etwas will! Der wollte dir eine Freude machen!” Woraufhin sie ihn mit Unver­ständ­nis anblickt: “Warum backt er dann keinen Kuchen?”

Die, die mit­fühlen, scheit­ern bei Tsche­chow. Sorin, der schläft und schläft. Mascha, die trinkt und trinkt. Kost­ja, der kämpft und liebt. Und schließlich Nina, die Möwe. Wie Bud­de­berg das mit ihrem grandiosen, spiel­freudi­gen Ensem­ble umset­zt, ist schön, ist komisch, schmerzt, hat Leichtigkeit, Fan­tasie. Sie find­et Bilder, die umw­er­fen. Sie hat mit Ste­fan Paul Goetsch einen Musik­er an ihrer Seite, der jeden Ton trifft, den sie auf der Bühne anreißt. Dann gehen die Schaus­piel­er zum Plat­ten­spiel­er und leg­en auf. Sie machen Musik, immer dann wenn es weh tut. Das Übrige tut die stark gekürzte Fas­sung (knapp zwei Stun­den), die Luft lässt für das Spiel zwis­chen den Zeilen, Raum bietet für Zwis­chen­bilder, Tänze, Kämpfe, neue Texte und Stille, die Tsche­chows Fig­uren atmen lässt. Alles richtig gemacht.

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