No Drama, please!

Am Schmidt Tivoli sind Entertainer Sven Ratzke und Band mit dem Kult-Musical »Hedwig and the Angry Inch« zu Gast.

Hedwig and the Angry Inch
Zwischen Ost und West, zwischen Mann und Frau: Sven Ratzke als Hedwig. (Foto: Dennis Veldmann)

Es ist eine Erfol­gs­geschichte, wie sie sel­ten auf dem hart umkämpften Musi­cal­markt vorkommt. Eine Geschichte über einen Außen­seit­er, queer und archaisch, die sich von der kleinen Off-Pro­duk­tion zum Kult gemausert hat: “Hed­wig and the Angry Inch”. Da ist dieser androg­y­ne Junge aus Ost­ber­lin, der mit sein­er Mut­ter auf ein­er Pritsche schläft und von der großen Liebe und träumt. Die kommt ver­meintlich mit einem GI in die grauen Straßen der Stadt. Mit ein­er Heirat wären alle Prob­leme gegessen, und so machen Mut­ti und der GI kurzen Prozess: Das für eine Ehe hin­der­liche Kör­perteil muss ab, denn: “Für die Frei­heit muss man einen kleinen Teil von sich zurück lassen.”

Soweit der Plan, der nicht aufge­ht, denn die Geschlecht­sumwand­lung geht schief, und dem zarten Hansel bleibt ein “angry inch” zurück, ein “zorniger Zen­time­ter”, der es ihm unmöglich machen wird, jemals zu ein­er Seite zu gehören. Dem GI und Mut­ti ist das schein­bar egal, sie geben dem Zwit­ter­we­sen kurz­er­hand Mut­tis Vor­na­men “Hed­wig” und eine zot­tige Perücke mit auf dem Weg. Dass die Ehe scheit­ert und sich Hed­wig ein Jahr später in einem herun­tergekomme­nen Trail­er­park wiederfind­et, ist umso ärg­er­lich­er, als sie von dort aus den Mauer­fall im Fernse­hen miter­leben darf. Hätte man also gar kein Stück von sich zurück­lassen müssen für die Frei­heit.

Dass es ein solch­er Stoff 1998 aus der Nis­che des Off-The­aters auf die inter­na­tionalen Büh­nen schafft, liegt an der zart-zorni­gen Melan­cholie und Archaik, die über der Geschichte hängt, und dem pack­enden Sound­track. 2001 wurde der Stoff ver­filmt, 2004 nah­men Stars wie Cindy Lau­per, Rufus Wain­wright und Yoko Ono ein Trib­ute-Album auf. Was nun Sven Ratzke in der Regie von Gunt­bert Warns am Berlin­er Renais­sance The­ater aus der Geschichte gemacht hat, ist noch bis Sam­stag, den 12.11., im Tivoli zu sehen. Es ist eine schrille Show, die ganz auf die kün­st­lerischen und stimm­lichen Aus­drucksmit­tel von Ratzke set­zt und ihm eine kon­ge­niale Band und die gesan­glich firme Maria Schus­ter an die Seite stellt.

Hedwig and the Angry Inch
Volle Röhre Hed­wig.
Foto: Den­nis Veld­mann

Ratzke verkör­pert das Zwis­chen­we­sen Hed­wig, das in einem abge­halfterten Ham­burg­er Nacht­club gelandet ist, und seine Geschichte erzählt, mal derb, mal zart und ver­let­zlich. Da find­et man sich als Mann im Pub­likum schon mal unter dem schwarz-rot-gold­e­nen Fransen­röckchen der glitzern­den Hed­wig wieder und muss sich ein biss­chen besteigen lassen. Ratzke gibt den Zuschauern die volle Bre­it­seite und lässt sich gern dazu hin­reißen, schäu­mendes Astra zu ver­spritzen und seine “Sch­neck­en” zu mah­nen, ihm nicht unters Röckchen zu guck­en.

Die Stim­mung ist Bombe, allein: Im ersten Teil fehlt es dem Abend ein wenig an der zarten und teil­weise nieder­schmettern­den Melan­cholie, die die Vor­lage mit­bringt. Ratzkes Berlin­er Schn­od­der­schnau­ze lässt die Menge jubeln und die zarte Hed­wig teil­weise hin­ter sich. Den­noch: Da sitzt jede Bewe­gung, jed­er kaputte Ton dieser grandiosen Musik zwis­chen Glam, Pow­er­pop, Coun­try und Rock’n’Roll ist voll da.

Die zweite Hälfte darf dann doch etwas bit­ter­er wer­den. Hed­wig hat eine neue Liebe in dem Akne-geplagten Jesus-Freak Tom­my gefun­den und berichtet von der wilden Zeit im Wohn­wa­gen, wo die bei­den gemein­same Songs schreiben. Dass auch Tom­my Gno­sis – so sein der griechis­chen Über­set­zung des Wortes “Erken­nt­nis” entliehen­er Kün­stler­name – auf­grund des “angry inch­es” nie ihre Vorder­seite lieben kon­nte, liegt in der Ironie des Schick­sals. Auch er wird Hed­wig let­ztlich sitzen lassen – umso bit­ter­er, da er mit den gemein­samen Songs zum Super­star wird. Das alles lässt Regis­seur Warns über eine schlichte Box erzählen, die die Band­mit­glieder oder Jet­zt-Ehe­mann Yitzhak (Maria Schus­ter) zeitweise öff­nen, um ihr Töne und Nebel der Ver­gan­gen­heit zu ent­lock­en, die Hed­wig kaum erträgt.

Es ist ein Abend, der den Songs und ihrer Wirkung zu Beginn manch­mal mehr Raum lassen kön­nte – und dann im zweit­en Teil vol­lends seinen Rhyth­mus find­et. Ratzke ist eine Naturge­walt, die über die Bühne fegt, und er hat das Zeug zur Bit­terkeit, die die Fig­ur benötigt. So her­rlich queer, androg­yn, flir­tend weib­lich und derbe männlich, wie nur ein Zwit­ter­we­sen es sein kann. Es lohnt sich, diesen beson­deren Abend noch mitzunehmen, bevor er wieder nach Berlin weit­erzieht.

 

 

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