Es ist eine Erfolgsgeschichte, wie sie selten auf dem hart umkämpften Musicalmarkt vorkommt. Eine Geschichte über einen Außenseiter, queer und archaisch, die sich von der kleinen Off-Produktion zum Kult gemausert hat: “Hedwig and the Angry Inch”. Da ist dieser androgyne Junge aus Ostberlin, der mit seiner Mutter auf einer Pritsche schläft und von der großen Liebe und träumt. Die kommt vermeintlich mit einem GI in die grauen Straßen der Stadt. Mit einer Heirat wären alle Probleme gegessen, und so machen Mutti und der GI kurzen Prozess: Das für eine Ehe hinderliche Körperteil muss ab, denn: “Für die Freiheit muss man einen kleinen Teil von sich zurück lassen.”
Soweit der Plan, der nicht aufgeht, denn die Geschlechtsumwandlung geht schief, und dem zarten Hansel bleibt ein “angry inch” zurück, ein “zorniger Zentimeter”, der es ihm unmöglich machen wird, jemals zu einer Seite zu gehören. Dem GI und Mutti ist das scheinbar egal, sie geben dem Zwitterwesen kurzerhand Muttis Vornamen “Hedwig” und eine zottige Perücke mit auf dem Weg. Dass die Ehe scheitert und sich Hedwig ein Jahr später in einem heruntergekommenen Trailerpark wiederfindet, ist umso ärgerlicher, als sie von dort aus den Mauerfall im Fernsehen miterleben darf. Hätte man also gar kein Stück von sich zurücklassen müssen für die Freiheit.
Dass es ein solcher Stoff 1998 aus der Nische des Off-Theaters auf die internationalen Bühnen schafft, liegt an der zart-zornigen Melancholie und Archaik, die über der Geschichte hängt, und dem packenden Soundtrack. 2001 wurde der Stoff verfilmt, 2004 nahmen Stars wie Cindy Lauper, Rufus Wainwright und Yoko Ono ein Tribute-Album auf. Was nun Sven Ratzke in der Regie von Guntbert Warns am Berliner Renaissance Theater aus der Geschichte gemacht hat, ist noch bis Samstag, den 12.11., im Tivoli zu sehen. Es ist eine schrille Show, die ganz auf die künstlerischen und stimmlichen Ausdrucksmittel von Ratzke setzt und ihm eine kongeniale Band und die gesanglich firme Maria Schuster an die Seite stellt.
Ratzke verkörpert das Zwischenwesen Hedwig, das in einem abgehalfterten Hamburger Nachtclub gelandet ist, und seine Geschichte erzählt, mal derb, mal zart und verletzlich. Da findet man sich als Mann im Publikum schon mal unter dem schwarz-rot-goldenen Fransenröckchen der glitzernden Hedwig wieder und muss sich ein bisschen besteigen lassen. Ratzke gibt den Zuschauern die volle Breitseite und lässt sich gern dazu hinreißen, schäumendes Astra zu verspritzen und seine “Schnecken” zu mahnen, ihm nicht unters Röckchen zu gucken.
Die Stimmung ist Bombe, allein: Im ersten Teil fehlt es dem Abend ein wenig an der zarten und teilweise niederschmetternden Melancholie, die die Vorlage mitbringt. Ratzkes Berliner Schnodderschnauze lässt die Menge jubeln und die zarte Hedwig teilweise hinter sich. Dennoch: Da sitzt jede Bewegung, jeder kaputte Ton dieser grandiosen Musik zwischen Glam, Powerpop, Country und Rock’n’Roll ist voll da.
Die zweite Hälfte darf dann doch etwas bitterer werden. Hedwig hat eine neue Liebe in dem Akne-geplagten Jesus-Freak Tommy gefunden und berichtet von der wilden Zeit im Wohnwagen, wo die beiden gemeinsame Songs schreiben. Dass auch Tommy Gnosis – so sein der griechischen Übersetzung des Wortes “Erkenntnis” entliehener Künstlername – aufgrund des “angry inches” nie ihre Vorderseite lieben konnte, liegt in der Ironie des Schicksals. Auch er wird Hedwig letztlich sitzen lassen – umso bitterer, da er mit den gemeinsamen Songs zum Superstar wird. Das alles lässt Regisseur Warns über eine schlichte Box erzählen, die die Bandmitglieder oder Jetzt-Ehemann Yitzhak (Maria Schuster) zeitweise öffnen, um ihr Töne und Nebel der Vergangenheit zu entlocken, die Hedwig kaum erträgt.
Es ist ein Abend, der den Songs und ihrer Wirkung zu Beginn manchmal mehr Raum lassen könnte – und dann im zweiten Teil vollends seinen Rhythmus findet. Ratzke ist eine Naturgewalt, die über die Bühne fegt, und er hat das Zeug zur Bitterkeit, die die Figur benötigt. So herrlich queer, androgyn, flirtend weiblich und derbe männlich, wie nur ein Zwitterwesen es sein kann. Es lohnt sich, diesen besonderen Abend noch mitzunehmen, bevor er wieder nach Berlin weiterzieht.
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