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Nichts zu sagen: Jette Steckels Versuch über die »10 Gebote« bei den Lessingtagen im Thalia Theater

10 Gebote

Men­schen, die sich viel im Inter­net umtun, wis­sen, was »Click­bai­ting« ist. Men­schen, deren Ver­weil­dau­er in den digi­ta­len Medi­en gering ist, aber dafür gele­gent­lich ins Thea­ter gehen, wis­sen das nicht unbe­dingt. Die­se Form der digi­ta­len Kom­mu­ni­ka­ti­on ist nach einem sehr schlich­ten Mus­ter gestrickt – es geht im Wesent­li­chen dar­um, mit mög­lichst ober­fläch­li­chen Rei­zen mög­lichst vie­le Men­schen, vul­go »Kun­den«, auf eine bestimm­te Inter­net­prä­senz zu locken, zur Ver­meh­rung von Leser­schaft, zu Gewin­nung von Kunden.

Das funk­tio­niert in der Regel über Primar­rei­ze in den Über­schrif­ten, schlich­te Asso­zia­ti­ons­rei­hen sol­len die Neu­gier wecken und zum »Zugriff« ver­hel­fen – dazu gehö­ren Super­la­ti­ve genau­so wie das alte Mit­tel »Sex and Crime«. Mit­un­ter eröff­nen sol­che Teaser auch mit der Ein­lei­tung: »Kaum zu glau­ben …«. Ein­fach gesagt – es ist vor allem eine Kom­mu­ni­ka­ti­on des ers­ten Ein­falls, denn das nahe­lie­gends­te führt dort zum Erfolg, ist die Neu­gier geweckt, ist der Kun­de gefangen.

Nach die­sem Prin­zip funk­tio­niert auch Jet­te Ste­ckels Thea­ter-Adap­ti­on der »10 Gebo­te«. Das ist in der Tat »kaum zu glau­ben« – denn die Insze­nie­rung des Deut­schen Thea­ters in Ber­lin ist zu den Ham­bur­ger Les­sing­ta­gen gela­den, dem Fes­ti­val, das sich den Namen des Theo­lo­gen und Auf­klä­rers Gott­hold Ephra­im Les­sing gege­ben hat und sich im Jahr des Refor­ma­ti­ons­ju­bi­lä­ums pro­gram­ma­tisch an die all­ge­mei­nen Fei­er­lich­kei­ten ange­dockt hat. Fes­ti­val­lei­ter Joa­chim Lux for­mu­liert sei­ne hohen Ansprü­che so: »Selbst aus dem Ritus ent­stan­den ist das Thea­ter immer wie­der bei­des: der Ver­such der Rekon­struk­ti­on von Sinn, wie aber auch blas­phe­mi­sche Atta­cke auf Bigot­te­rien jed­we­der Art. Nach die­sem Pro­gramm gehen Sie, ver­ehr­tes Publi­kum, sicher gut vor­be­rei­tet in das gro­ße Luther­jahr mit all sei­nen Luther­spie­len und kön­nen auf eine Luther-Play­mo­bil­fi­gur, ja die gibt’s wirk­lich, sicher gut verzichten …«

Den­noch – der Impuls des ers­ten Augen­blicks, des Ein­falls, der Pri­ma­r­as­so­zia­ti­on ist das beherr­schen­de Moment die­ses Abends. Ste­ckel und ihr Team haben zu jedem Abschnitt des Deka­logs einen ande­ren Autor auf­ge­bo­ten. Die­se Tex­te sind nicht unbe­dingt für das Thea­ter geschrie­ben, bis auf eine Auf­trags­ar­beit von Mark Ter­kes­si­des sind sie nicht ein­mal The­men­tex­te zu den ein­zel­nen Fra­ge­stel­lun­gen die­ses über­lie­fer­ten Regel­wer­kes, das ja nicht allein Äuße­rung von Reli­gio­si­tät ist, son­dern Basis für eine gesell­schaft­li­ches Mit­ein­an­der. Die Büh­nen­be­ar­bei­tun­gen die­ser Regeln sind hier vor allem Asso­zia­tio­nen zu den The­men­be­rei­chen des Deka­logs und schon mit die­sen beginnt die Bana­li­tät, oder bes­ser gesagt, die Hilf­lo­sig­keit im Umgang mit ihnen. Wie das funk­tio­niert, lässt sich am deut­lichs­ten anhand des fünf­ten Gebo­tes sehen, das eines der stärks­ten Tabus unse­rer Gesell­schaft beschreibt: »Du sollst nicht töten.«

Die Asso­zia­ti­ons­rei­he ist, wie gesagt, sim­pel. In einer groß­flä­chi­gen Pro­jek­ti­on wer­den drei Inter­view­sze­nen gezeigt, man sieht die Inter­view­ten im Gegen­licht, ihre Gesich­ter sind nicht zu erken­nen. Sie spre­chen über ihren sexu­el­len Fetisch, die Vor­stel­lung, geges­sen zu wer­den, Kan­ni­ba­lis­mus also. Die­se Inter­views sind nach­ge­stellt, offen­bar nach »Ori­gi­nal­pro­to­kol­len«, wir­ken trotz­dem mit­un­ter unfrei­wil­lig komisch, so bizarr sind die Phan­ta­sien und so distan­ziert ist die abge­film­te Reproduktion.

Die ers­te Asso­zia­ti­on zum 5. Gebot ist also die am stärks­ten erschei­nen­de Tabu­ver­let­zung, der Kan­ni­ba­lis­mus. Im Lau­fe des drit­ten Inter­views erscheint unter­halb der Pro­jek­ti­ons­flä­che ein katho­li­scher Pries­ter im Mess­ge­wand, er teilt die Hos­tie aus. Das ist offen­bar der zwei­te Asso­zia­ti­ons­schritt der Jet­te Ste­ckel: Eucha­ris­tie – Kan­ni­ba­lis­mus. Denn in den Ein­set­zungs­wor­ten zum Abend­mahl wird ja gesagt: »Das ist mein Leib, der für euch hin­ge­ge­ben wird

Die­se intel­lek­tu­el­le Schlicht­heit igno­riert zwar die über Jahr­hun­der­te betrie­be­ne Aus­ein­an­der­set­zung über den Begriff der Wand­lung, über sym­bol­haf­te Hand­lun­gen, die Über­tra­gungs- und Deu­tingspro­ble­ma­tik des Begrif­fes »Leib«, das scheint aber nicht zu stö­ren. Denn es funk­tio­niert wie im Netz: Tötungs­ver­bot, Kan­ni­ba­lis­mus, Abend­mahl. Genau das ist thea­tra­li­sches »Click­bai­ting«, der größt­mög­li­che Reiz ohne jeg­li­che Ver­tie­fung des Themas.

Von ähn­li­chem Kali­ber sind die meis­ten der zehn Dra­mo­let­te die­ses Abends, der sich ins­ge­samt über fast vier Stun­den hin­zieht. Dabei ist die Qua­li­tät der aus­ge­such­ten Tex­te höchst unter­schied­lich, von der Schlicht­heits­heit­pro­sa Sher­ko Fatahs aus den Tie­fen des deut­schen Fern­seh­kri­mi­nal­all­tags (»2. Du sollst den Namen des Herrn, dei­nes Got­tes, nicht miss­brau­chen«) bis hin zur wohl­fei­len Sua­da der Dra­ma­ti­ke­rin Feli­cia Zel­ler zur soge­nann­ten »Lügen­pres­se« (»8. Du sollst nicht falsch Zeug­nis reden …«), cho­risch vor­ge­tra­gen von einer Hor­de beturban­ter Moses­fi­gu­ren, die die Geset­zes­ta­feln behäm­mern: Lüge – Lügen­pres­se – Moses. In dem von Mark Ter­kes­si­des für den Abend geschaf­fe­ne Text zu »Du sollst nicht begeh­ren dei­nes Nächs­ten Haus.« raschelt das Papier der Theo­rie so laut, dass die Regie das Gan­ze in eine grell­bun­te Dis­ko-Ver­pa­ckung hül­len muss, inklu­si­ve B52’s‑Zitat (»Love Shack«) aus den spä­ten 80er Jah­ren, denn es geht um Ver­tei­lungs­de­bat­ten, wie sie jeder WG der »Mar­xis­ti­schen Grup­pe« in die­ser Zeit gut zu Gesicht gestan­den hätten.

Lite­ra­risch auf­fal­lend stär­ker sind Nino Hara­ti­schwi­lis Schil­de­rung einer Ver­füh­rung (»Die Nacht aus Papier« zu »6. Du sollst nicht ehe­bre­chen.«) und vor allem Jochen Schmidts warm­her­zi­ge Erin­ne­run­gen an die Vor­ge­ne­ra­ti­on (»4. Du sollst Vater und Mut­ter ehren.«). Thea­tra­lisch pas­siert da zwar nicht viel, aus dem einen wird eine rot­lich­ti­ge Nacht­club­num­mer im Par­kett mit Geträn­ke­aus­schank an das Publi­kum, aus dem ande­ren eine der bekann­ten Fami­li­en­fei­er­ta­fel­ge­sell­schaf­ten. Und, um bei den ers­ten Ein­fäl­len zu blei­ben: In der Regel wird der Wort­laut des jewei­li­gen Gebo­tes und der jewei­li­ge Autor mit Krei­de auf die Büh­nen­kon­struk­ti­on geschrie­ben, damit man auch ja nicht durch­ein­an­der­kommt. Bei Vater und Mut­ter schreibt man in der 1941 aus den Lehr­plä­nen ver­bann­ten Süt­ter­lin-Schrift. Eltern – His­to­rie – Süt­ter­lin. Wahr­schein­lich auch noch »Nazi«. Click­click.

Aber wenn die kom­ple­xe Fra­ge nach der Exis­tenz Got­tes, der Selbst­de­fi­ni­ti­on und der Behaup­tung sei­ner selbst, das so schwie­ri­ge »Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst kei­ne ande­ren Göt­ter haben neben mir.« des 1. Gebo­tes gestellt wird, dann tut man sich äußerst schwer mit einer Umset­zung. Her­aus kommt ein »wil­der« Text vom Cle­mens Mey­er, dar­ge­bo­ten von einer Kin­der­fi­gur im Comic-Stram­pel­an­zug, des­sen tiefs­te Durch­drin­gung aus einem Zitat aus dem Fan­ta­sy-Epos »High­lan­der« besteht: »Es kann nur einen geben«.

Als dann am Schluss eine merk­wür­di­ge Fell­krea­tur mit einem leben­den Schaf (Ach­tung, Pri­ma­r­as­so­zia­ti­on: »Der gute Hir­te«) an der Lei­ne auf die Büh­ne tritt und sich mit einem die­ser herz­zer­rei­ßen­den Song­tex­ten, wie sie in Deutsch­land wohl nur ein Rocko Scha­mo­ni schrei­ben kann, für sei­ne Schöp­fungs­un­fäl­le ent­schul­digt, dann ist man erschöpft geneigt, der Regis­seu­rin die­sen gan­zen Sim­pli­zi­täts-Mist zu ver­zei­hen. Man kann ihr nicht ihren mög­li­cher­wei­se vor­han­de­nen Athe­is­mus oder den Zwei­fel vor­wer­fen, denn nicht ein­mal der spielt hier eine Rol­le. Es unter­hält das Gan­ze auf irgend­ei­ne Art und Wei­se, aber es ist durch und durch »Ein­falls­thea­ter«. Was aber zählt, ist: Ganz offen­bar hat sie nie gelernt, sich kom­ple­xer mit The­men aus­ein­an­der­zu­set­zen als in der Form, die sie hier zeigt.

Aber – wenn so eine Insze­nie­rung die Ant­wort des Thea­ters auf die Fra­gen und Stel­lung­nah­me zu den gesell­schaft­li­chen The­men die­ser Zeit sein soll, dann macht es sich als reflek­tie­ren­de Kunst­form obso­let. Es ist eine Belei­dung für den Intel­lekt vie­ler Zuschau­er und zugleich ein Armuts­zeug­nis für die Kunst­form Thea­ter. Hier ist es kom­plett bedeu­tungs­los gewor­den, weil es kei­ne Bedeu­tun­gen mehr sucht, son­dern bereits vor­ge­fer­tig­ten Deu­tungs­mus­tern hin­ter­her­läuft, vor allem dem Vor­ur­teil. Man erin­ne­re sich an die Ein­set­zungs­wor­te des Inten­dan­ten zum Fes­ti­val, zu dem die­se Insze­nie­rung ein­ge­la­den wur­de: »… der Ver­such der Rekon­struk­ti­on von Sinn«Das wiegt schwer.

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