Monsieur Bastelica ist ein Mann von massiger Erscheinung. Er hat genau die Statur, die man auf dem örtlichen Rugby-Feld braucht. Hier im Süden Frankreichs ist, ähnlich wie in anderen Departements, der rauhe Sport, der mit schöner Regelmässigkeit Blumenkohlohren und blaue Augen produziert, Volkssport.
Er ist der Patron einer Bar in einem kleinen Ort, der knapp über 2.000 Einwohner hat, die hiesige Rugby-Equipe, die ihre Spieler auch aus den umliegenden Dörfern rekrutiert, ist recht erfolgreich. Auf dem Platz findet dann auch schon mal der Kampf um die französische Juniorenmeisterschaft statt, darauf ist man stolz. Gelegentlich kommen deutsche Touristen hierher, sie nennen den Patron unter sich »die Eule«, so markant ist seine Physiognomie.
Auch an diesem heißen Sommertag sitzen sie hier. In einem der unter der Decke angebrachten Fernseher kann man die bunte Schlange der Radfahrer sehen, die zäh durch irgendeine der pittoresken Landschaften Frankreichs rollt. Es ist die Zeit der Tour de France, der Fernseher läuft stumm, ab und an schaut einer nach oben, wie jedes Jahr im Sommer.
Im »Sarl le Papyloup« gibt es Bier, die großen Gläser nennen sie hier »Formidable«, ein paar örtliche Weine und eine kleine Speisekarte. In der Hitze gern genommen wird »Sandwich«, natürlich französisch ausgesprochen, mit langem »a«. Gemeint sind nicht diese pappigen Weißbrotscheiben, die es an den Autobahntankstellen europaweit gibt, sondern lange Baguettes mit unterschiedlichen Belägen, frischen Tomaten, Ziegenkäse, ein paar Tropfen Olivenöl – »Sandwich paté« ist besonders beliebt, auch an diesem Tag hat der Wirt ein paar davon auf dem Tablett, für die deutschen Touristen.
Alles ist wie jedes Jahr, im Sommer. Aber eine Kleinigkeit ist anders. Draußen, im Schatten der alten Häuser spielen ein paar Kinder mit einem Ball, sie tragen dunkelblaue Trikots, auf der Brust ein Hahn und auf dem Rücken stehen Namen: Henry, Vieira, Zidane, Djorkaeff. Und drinnen singt der große Rugbyfan Monsieur Bastelica leise, als er seine belegten Baguettes den deutschen Touristen serviert, nur einen sich wiederholenden Vers: »On est les Champions«.
Es ist das Jahr 1998, das Jahr, in dem die legendäre Équipe Tricolore am 12. Juli den Fussballweltmeistertitel im eigenen Land gewann und die kollektive Begeisterung auch die hintersten Winkel des großen Landes erreichte. Frankreich, in dessen berühmter Sportzeitung »L’Equipe« die Fußballergebnisse in der Regel hinter den Platzierungen von Hochseeseglern und Kreisklasse-Rugbyteams standen, war in den Wochen der WM zur Fußballnation geworden.
Die Namen der Helden dieses Finales, einer jungen, von vielen »Beurres« durchsetzten, und vor allem schön und schnell spielenden, Mannschaft waren in aller Munde, und dieser Ruhm hielt sehr lange vor.
Noch auf einer im Jahr 2012 erschienene Platte betitelte Frankreichs vielleicht intelligentester Vertreter des Nouveau Chanson, Vincent Delerm, eines seiner Lieder »Un tacle de Patrick Vieira n’est pas une truite en chocolat« – keine Kleinigkeit also ist der Einsatz dieses defensiven Mittelfeldspielers. Vieira war einer der Angelpunkte der Mannschaft von 1998, er beendete seine Karriere bereits 2011, heute ist er Jugendtrainer in England.
Offenbar hat der Fußball die Fähigkeit, sich tief in das individuelle und kollektive Bewusstsein von Menschen einzunisten, gleich, ob Kneipenwirt oder Intellektueller.
»Es handelt sich um eine Aufnahme aus der Luft – der Betrachter schaut direkt von oben auf die sich unter ihm abspielende Szene. Der Grund in Tieforange, mit einigen Nuancen in helleren Orangetönen, stellt das Spielfeld der insgesamt acht Farbplayer dar – eine neue Mannschaftsaufstellung mit weniger Feldspielern soll in diesem Match erstmalig erprobt werden. Diese sind im relativen Zentrum des Bildes aufgestellt und tragen die Trikot-Farben Ziegelrot und Sonnengelb, die Schieds- und Linien-Richter sind in Rauchschwarz gehalten.«
Auch die deutsche Seele fasst der Ballsport an, die Legende von 1954, als aus den Ruinen des deutschen Verbrechens eine hart arbeitende Mannschaft emporstieg, die beim Vergessen und bei der Identifikation half, sitzt tief im deutschen Bewusstsein, bis heute ist der Stoff offenbar musicalreif, im November findet in Hamburg die Premiere eines gleichnamigen Singspiels statt.
Dieser Sport ist dafür geeignet, Mannschaftsgeschichten und individuelle Indentifikationen zu liefern, seine Legenden vom Scheitern und Wiederaufstehen haben mythischen Charakter. Wie oft hört man im oft beschränkten Wortschatz der Sportberichterstatter, eine Mannschaft »käme wieder«, vom »Scheitern in letzter Minute«, und auch von der Eleganz eines einzelnen Spieler, der durch die gegnerischen Reihen »tanzt«. Hinfallen, Aufstehen, gegen alle Widerstände kämpfen ebenso wie der »glückliche Sieg«, das sind archaische Muster des Überlebens, wie wir sie aus Sagen und Erzählungen kennen, Momente, in denen der Mensch sich über sein Dasein erheben kann und für den Augenblick Ende und Endlichkeit überwindet.
Einer derjenigen, die dieses Spiel auf äusserste verinnerlicht haben, ist der zu oft als Bruder Leichtfuß geschmähte Dichter Moritz Rinke. Der Autor ist ein »Fan« im besten Sinne einer bedingungslosen Identifikation, einer Hingabe. Es gibt einen kleinen Kolumnenband von ihm, bereits 2012 vom Verlag anlässlich der Europameisterschaft herausgegeben, über den man viel verstehen lernt, davon, wie der Fußball einem kleinen, vielleicht etwas versponnenen Jungen eine Projektionsfläche bieten konnte und beim Erwachsenwerden half und auch dem Erwachsenen ein stetes Thema ist, an dem er sich, nicht ohne Witz und Distanz abarbeiten kann.
Eine der Kolumnen heißt »Fimpen, der Knirps«, und sie erzählt äußerst liebevoll von der Begegnung des kleinen Moritz Rinke – hier einmal darf man die Diskrepanz zwischen auktorialem Ich und Autor einmal am Spielfeldrand stehen lassen – mit einem schwedischen Jugendfilm aus dem Jahr 1974.
Den damals wohl knapp zehnjährigen Moritz hat dieser Film – die Geschichte ist absurd genug, ein kleiner Junge, Fimpen, ist so begabt für das Fussballspiel, dass er schließlich der schwedischen Nationalmannschaft zur Qualifikation verhilft – so sehr geprägt, dass der Fussball bis heute zu den Metaphern seines Lebens gehört.
Viele kleine Grotesken gibt es in diesem Band, absurde fiktionale Dialoge absolut unfiktionaler Beteiligter am deutschen Fußballgeschehen, von Franz Beckenbauer bis zum Jogi Löw. Vielleicht die Krönung dieser Anthologie ist die bizarre Imagination des Autors, er sei einer Beschäftigung als “Poolwächter” der deutschen Nationalmannschaft bei der WM 2006 im eigenen Land nachgegangen – dieser kleine “Tatsachenbericht” ist so wahrscheinlich wie er unwahrscheinlich ist und erzählt mehr über den Sport und die Spieler als so manches holzhämmernde und vorgeblich investigative Interview mit erschöpften Abwehrspielern nach der Verlängerung.
Rinke ist inzwischen Stürmer in der Kuriosität DFB-Autoren-Nationalmannschaft und stolz auf das Haarband seines Idols Torsten Frings, jenes beinharten Bremer Außenverteidigers, dessen Suspendierung bei der WM 2006 Deutschland zu den Untergangslegenden des damaligen “Sommermärchens” galt. Der Titel ging dann an den ewigen Gegner Italien, man schlug Frankreich im Elfmeterschiessen mit 5:3.
»Kraft, Bewegung und Lebensfreude gebündelt in diesem Colour-Kontext. Man merkt sofort, es handelt sich um südliche Spiel-Gefilde. Ein Spieler Sonnengelb schert aus dem Zentrum aus und bewegt sich auf die untere linke Ecke zu … Ist er schon vor dem Ball? Was unternehmen seine Mitspieler? Die gegenerische Mannschaft Ziegelrot ist komplett durch Sonnengelb gedeckt, zwei Ziegelrote sind in die Mitte genommen, es kommt Dynamik in die Partie.«
Auf andere Art besessen sind auch der Journalist Kai Schächtele und der Photograph und Graphiker Christian Frey. Beide waren schon 2010 nach Südafrika gereist, um von dort von der WM zu berichten.
Allerdings ging es ihnen dabei nicht um Berichte der deutschen Nationalmannschaft mit den Beinen im Swimmingpool, wie wir sie dieser Tage im öffentlich-rechtlichen Fernsehen geboten bekommen haben, jene Art der Hofberichterstattung ist den beiden gänzlich fremd. Stattdessen reisten sie seinerzeit auf eigene Rechnung durch das Land von Apartheid und Buren, durch Vorstädte und an Strände, um zu sehen, was dieses medial ausgeschlachtete Großereignis mit den Menschen vor Ort macht und sie daraus machen.
So schauten sie mit Slumkindern Spiele im Fernsehen und führten viele Gespräche mit den Südafrikanern hinter den Kulissen der Sportberichterstattung. Diese geradezu ethnologische Hintergrundberichterstattung veröffentlichten sie in einem täglichen Blog, illustriert mit Bildern, originellen Filmen, Slideshows und O‑Tönen. Ein Blick hinter die Kulissen eines sportlichen Großereignisses, Premiumjournalismus im Internet, in Zeiten des allgegenwärtigen Klickzahlenfetischismus’ eine gar nicht genug zu wertende Ausnahme. Das “Wintermärchen 2010″ wurde für den Grimme-Online-Award nominiert.
Auch in diesem Jahr sind die beiden wieder unterwegs, diesmal begleitet durch die Journalistin Birte Fuchs. Sie reisten schon vor dem ersten Anpfiff nach Brasilien und suchten auch dort wieder Kontakt mit den Menschen im Land der WM. Im Jahr 2014 heisst ihr Projekt »Brafus2014«, und auch hier ist es die zugewandte und interessierte Art, Land, Leute und Fussball zu betrachten, die diese Seite auszeichnet. Tatsächlich sind die täglichen Berichte bunt und spannend, sei es eine Reportage über die Demonstrationen von WM-Gegnern oder einfach Erlebnisberichte mit Brasilianern beim gemeinsamen WM-Fernsehen. Selbst die Auflistung der Reisekasse – das Projekt finanziert sich vorwiegend über Spenden – ist unterhaltsam. Wer mehr über den Austragungsort dieser WM erfahren will, sollte hier zwingend vorbeischauen.
»Der Ball ist in der Luft, ein hoher Schuss, derzeit nicht auszumachen. Von Toren geschweige denn Torhütern keine Spur. Der Zuschauer hält einen Moment inne … Er betrachtet die Spieler: Der pastose Farbauftrag lässt auf ein kraftvolles Training beider Teams schließen, und auch die Schiedsrichter sind fit und können sich mit der Laufgeschwindigkeit der Ballartisten messen. Ein breiter Spachtelstrich hier, ein schmalerer dort, hier treffen Energie und Ausdauer aufeinander.«
Ohnehin ist Brasilien ein Projektionsraum für den Europäer, beflügelt durch all die Legenden, die man so gerne hört. Samba, Carneval, Rio, Oscar Niemeyer, nochmal Samba und das »Girl from Ipanema«, das Lied von jenem berühmten südatlantischen Strand, jene Vorstellung von Leichtigkeit, Liebe und ewigem Sommer. Kaum eine TV-Opener ohne einschmeichelndes Samba-Gelispel, kein Bericht ohne das Klischee von freundlicher Lässigkeit und tanzenden barbrüstigen Mädchen.
Einen anderen Weg, sich diesem Samba-Mythos zu nähern, hat das französische Streichquartett “Quatuor Ébène” eingeschlagen. Auch sie sind Reisende, die sich von den Begegnungen mit anderen Ländern und Menschen inspiriert fühlen, und sie haben sich auf eine Liebesaffäre mit der südamerikanischen Musik eingelassen – ganz wie die beiden prominenten Mitstreiter auf diesem Album, das den Namen des Gastlandes dieser Fussball-WM trägt: “Brazil”.
Einer der beiden, der Chansonnier Bernard Lavilliers, übriggebliebener Vertreter jener kraftstrotzenden, wilden linken Jungs aus dem Frankreich der 60er und 70er Jahre, deren stets geöffnete Hemdbrust Freiheit und Abenteuer damals wie heute dokumentiert, gibt mit einer bunten Vision über das erste Zusammentreffen die innere Marschroute des Albums vor: “Ich hätte sie in Manaus mitten im Amazonischen Urwald treffen könnne, Mozart spielend, im brasilianischen Nachbau der Opéra Garnier, umrankt von riesigen Lianen und Wurzeln der Selva. Wir hätten Caipirinha in Salvador oder Rio trinken können, mitten im Karneval, wird hätten Riffs von Jorge Ben spielen können, umgeben von nackten Mädchen.” Natürlich war das nicht so, man traf sich zuerst in Paris, und die Musik fing an. Soweit der Urwald-Mythos mit den Mädchen, solche Dinge bleiben wohl ewig.
»Brazil« hingegen spielt mit den Vorstellungen südamerikanischer Klänge und ist wohl das einzige Themenalbum dieses Jahres, dass wirklich ohne Antonio Carlos Jobims Überklassiker vom Strande Rios auskommen kann. Immerhin hat man neben Lavilliers eine der geschmeidigsten Stimmen des internationalen Jazz mit im Boot, die Amerikanerin Stacey Kent, deren bekannte Latin- und Bossa-Verliebtheit dem Projekt naturgemäß entgegen kommen muß. Kent hat kürzlich erst ein Solo-Album vorgelegt, das das eindrucksvoll dokumentiert (“The Changing Light”).
Man muss nun übrigens nicht meinen, es handele sich bei “Brazil” um eines dieser Rechtfertigungsprojekte klassischer Musiker, die ihre Lockerheit damit dokumentieren müssen, indem sie plötzlich Jazz oder Artverwandtes machen. Seit je dem Fusion-Genre zugewandt, klingen die Streicher mal hie nach Stéphane Grappelli oder tauchen dort einfach mal hinter dem Arrangement ab und lassen Rhythmusgruppe und Saxophon – gespielt von Kent-Gatte Jim Tomlinson – ihren Job machen. Sozusagen ein Glücksfall, das Ganze, und eine Hommage an einen Musikstil und einen Gestus, der im Klischee erstickt schien. Eine Platte eben wie die kleine Illusion hiervon: “Num doce balanço, a caminho do mar/Mit süßem Wiegen, auf dem Weg zum Meer” Zweifellos.
Und wer es bis hierher noch nicht erkannt hat, das Bild, um das es hier zwischen den Themenblöcken geht, stammt von der purtoricanischen Künstlerin Olga Albizu, es heisst “Alla Africa”. Was das nun mit der WM zu tun hat? Es schmückt das Cover von Getz/Gilberto, darauf, unter anderen Klassikern – “The Girl from Ipanema”.
»Es ist heiß, das Thermometer zeigt 34 Grad Celsius an. Doch was ist das? Von der Reservebank rennt der Ersatzschiedsrichter katapultartig auf das Spielfeld zu, ist schon auf der rechten unteren Spielhälfte angekommen – und pfeift! Denn es ist Halbzeit und der Kollege hat im Eifer des Gefechts doch tatsächlich sein Arbeitsgerät – die Trillerpfeife – verloren … Die 2. Hälfte wird in wenigen Minuten folgen …«
Ob die Wunderspieler der Équipe Tricolore von 2014, Karim Benzema und Antoine Griezmann, 1987 und 1991 geboren, zu den Jungs gehört haben, die 1998 mit den Rückennummern von Zinedine Zidane und Patrick Vieiria gegen die Häuserwände gebolzt haben, wissen wir nicht. Aber es ist doch ein ganz klein wenig wahrscheinlich – “On est les Champions”.
Unsere WM-Tipps 2014, auch und gerade kurz vor dem Spiel gegen Frankreich. [Amazon-Partnerlinks]:
Vincent Delerm: Quinze Chansons (darauf: »Un tacle de Patrick Vieira n’est pas une truite en chocolat«)
Moritz Rinke: Also sprach Metzelder zu Mertesacker, KiWi 2012
Stan Getz/João Gilberto: Getz/Gilberto
Übertragung von “Un tacle …” von Barbara Markert, Paris
Bildbeschreibung Olga Albizu: Melanie Ucke
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