Ja, es ist Sommerzeit. Und es ist tatsächlich warm und es sind Ferien. Die Theater schlafen – natürlich bereiten sie Großes vor, ein paar Festivals dümpeln vor sich hin und auch unsere Redaktion macht hie und da Ferien.
Was wir so treiben? Natürlich schauen wir weiter in der Welt der Kultur herum und können die eine oder andere Geschichte erzählen, schreiben vielleicht über liegen gebliebene Themen oder lesen einfach mal die Bücher, die wir schon immer mal lesen wollten. So stellen wir in loser Folge vor, was wir zurzeit gerade machen. Heute unser Kolumnist Hans-Jürgen Benedict, der beim Hamburger Orgelsommer war
Mit Heinrich Heine würde ich sagen: Der Protestantismus ist eine gute Orgelreligion — das ist meine positive Fassung seines Apercus: “Gäbe es in der protestantischen Kirche keine Orgel, so wäre sie gar keine Religion.” Allein über 60 Konzerte an den Orgeln der Hauptkirchen und des Mariendoms gibt es im Hamburger Orgelsommer 2013.
Vor 25 Jahren habe ich den damaligen Organisten von St. Michaelis, Günter Jena, in einem Artikel des Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatts gefragt, ob er nicht mehr Widerspruch in das von ihm annoncierte Orgelfestival einbauen könne. Jena hatte auf dem Prospekt das berühmte Tiziangemälde abgebildet, das einen Organisten an seinem Instrument mit einer nackten liegenden Venus zeigt. Und hatte gefragt: “Musik und Freiheit — sind sie nicht Kinder eines Geistes?”
Ja, hatte ich gesagt, das sind sie, Musik ist aber immer auch Vorschein von Versöhnung und insofern Bestreitung der schlechten Wirklichkeit. Sie dient nicht primär der Regeneration besser gestellter Schichten einschließlich der Hamburger Pfeffersäcke. Denn damals setzte mit der Schaffung des Schleswig Holstein-Musikfestivals gerade die neue Musikbewegung der sommerlichen Musikfeste ein, die die klassische Musik zu einem festen Bestandteil einer touristischen Event-Kultur machen sollte. Jena schrieb: Wenn Musik erklingt “fallen die Sorgen und Zwänge des Täglichen ab wie verbrauchte Kleider.”
Und lud dann noch zu meinem Ärger zu einem teuren Cembalo-Buffet ins Hotel Atlantic ein. Da rief ich ihm emphatisch zu: “Im Namen von Orpheus, David und der heiligen Cäcilie. Spielen Sie die Orgel so schön und brausend Sie können, lassen Sie die Flügel der Begeisterung rauschen, aber verscherbeln Sie ihre Kunst nicht für ein Linsengericht an die, die mit ihrem Kulturbetrieb die Verschandelung unserer Welt übertönen wolle. Bauen Sie mehr Widerspruch gegen das Kulinarisch-Affirmative in Ihr Programm ein.”
Ich lese meinen Text heute mit leiser Selbstironie. Wie aufgeregt-selbstgerecht ich argumentierte. Das war ja nicht falsch, was ich sagte über “die schlipstragenden Machtgruppen”, die Musik nur als “regenerierende Kraft für die Selbstdurchsetzung im Alltag von Produktion und Konsumtion wollen.”
Und der Wunsch, dass die Zuhörer mit jener “heiligen Unruhe” aus dem Konzert gehen, “dass die Welt so wird, wie die Musik es verspricht”, war auch verständlich. Aber hat es der ausführende Musiker in der Hand, wie das Publikum seine Musik „benutzt“?! Er braucht sein Publikum, wie immer dessen politische Einstellungen und Haltungen sein mögen.
Und damit es schöne Musikprogramme und ‑instrumente gibt, braucht es auch finanziell potente und freigiebige Sponsoren, wie gerade das Projekt “Eine Orgel für Bach” gezeigt hat. Eines ist die Politik, die Wirtschaft, ein anderes die Kultur, die Musik. Ich hatte schlicht den Benjamin-Satz vergessen, es ist kein Kunstwerk, das sich nicht auch der Barbarei verdankt. Und auch die Einsicht der Systemtheorie, dass eben die verschiedenen Bereiche der Gesellschaft nebeneinander existieren und ihre jeweilige Autonomie zum Funktionieren des Ganzen beiträgt.
Dass große Kunstwerke einen sprengenden Gehalt haben, dass sie den festgefügten Immanenzzusammenhang der Welt durchschlagen wollen, bleibt trotzdem wahr. Und die Struktur eines Konzerts oder Festivals ist nicht ganz unschuldig daran, ob der sprengende Gehalt hörbar werden kann oder gleich im affirmativen Kulturgenuss verloren geht.
Wird Widerständiges eingebaut, kommt Neues und Verstörendes zur Aufführung ? In einer kulturell reichen, vielfältigen und liberalen Gesellschaft wie der unseren, in der viele Anbieter um die Gunst des Publikums sich bemühen, ist die Gefahr groß, dass Erprobtes und Gefälliges dominiert. In einem Orgelfestival, das sich ohnehin an eine eng umgrenze Schicht von Interessenten wendet, besteht diese Gefahr weniger.
Die Vielfalt und Internationalität des Hamburger Orgelsommers 2013 ist beeindruckend. Wo gibt es das noch in unserem Land?
Die Stadt Hamburg wird dadurch sicher nicht verändert, eine Erwartung, die ich vor 25 Jahren offensichtlich noch hegte. Dass Orgelmusik eine sprengende, Menschen verändernde Kraft hat, haben wir nicht in der Hand. Aber wir wissen: sie kann trösten, auferbauen, stärken, schließlich sogar zu dem Zusammenbruch eines politischen Systems beitragen.
So wie in den 70er Jahren in der DDR, als “die Schulbehörde in N. die Direktoren anwies, zu verhindern, dass Fach-und Oberschüler die Mittwoch-Abend-Orgelkonzerte besuchen. Lehrer fingen Schüler vor dem Kirchenportal ab und sagten den Eltern: entwederoder. Eltern sagten ihren Kindern: entwederoder. Bald reichten die Sitzplätze im Schiff und auf den Emporen nicht mehr aus.(Meldung, die in keiner Zeitung stand).” Reiner Kunze hat es in Die wunderbaren Jahre (1976) beschrieben:
“Hier müssen sie nicht sagen, was sie nicht denken. Hier umfängt sie das Nichtalltägliche, und sie müssen mit keinem Kompromiß dafür zahlen; nicht einmal mit dem Ablegen ihrer Jeans. Hier ist der Ruhepunkt der Woche. Sie sind sich einig im Hiersein. Hier herrscht die Orgel. Alle Orgeln.”
Und dann beschreibt Kunze einige Orgeln, “die namenlosen, von denen jede ‘unsere Orgel’ heißt”, die berühmten, die Silbermannsche im Dom zu Freiberg, die Mühlhausener Orgel Johann Sebastian Bachs, die Güstrower Orgel über Barlachs ‘Schwebendem’, die Orgel zu Weimar, unter deren Empore der Sarg Johann Gottfried Herders steht, die Orgel zu St. Peter und St. Paul in Görlitz, die über und über mit Sonnen bedeckte, beschreibt sie mit Zitaten bekannter Musiker und Schriftsteller und bricht dann in den Appell aus:
“Alle Orgeln müssten mit einem Mal zu spielen anfangen, einsetzen mit vollem Werk, alle Orgeln, die im Osten, Süden, Norden und Westen … sie alle müßten plötzlich zu tönen beginnen, und die Lügen, von denen die Luft schon gesättigt, daß der um Ehrlichkeit Bemühte kaum noch atmen kann, hinwegfegen, unter wessen Dach hervor auch immer, hinwegdröhnen all den Terror im Geiste … Wenigstens ein einziges Mal, wenigstens für den Mittwochabend.”
13 Jahre später, in den Leipziger Montagsgebeten in der Nikolaikirche, wurde diese Hoffnung, diese Vision Wirklichkeit.
Heute können wir froh sein, dass unsere Orgellandschaft so reich ist und dass es jetzt eine wiederhergestellte Orgel für Bach gibt. Es ist ein Anlaß zum Dank, dass wir die Schönheiten der Orgelmusik so vielfältig hören und genießen können. Und sicher kann sie dazu helfen, Menschen in ihrem Glauben zu bestärken und in ihren Kümmernissen zu trösten. So trägt die Orgelmusik auf ihre Weise dazu bei, dass das Leben gelingt.
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