Ach, wann war das noch, als es anfing mit all den unbelasteten Dingen? Es mag vielleicht in den späten 80ern gewesen sein, als uns Menschen in der Fernsehwerbung auffielen, die bevorzugt weiße Kleidung trugen und Schokolade wollten, die keine war. Oder Kaffee tranken, der sich auch zum Genuß nach dem Sport eignete. Und nicht zu vergessen, die Frauen mit ulkigen Allerweltsnamen, die nächtens an den Kühlschrank schlichen und Süßwaren zu sich nahmen, die vor allem eines zu sein hatte: leicht. Dafür standen sie sogar auf.
Wie das so ist mit Konsumtrends, sie werden solange penetriert, bis sie sich festsetzen und in alle Schichten der Wahrnehmung von Welt durchsickern. Das Primat des Leichten, des Unbelasteten und des Unangestrengten ist wohl solch ein Sickertrend, der inzwischen zur Allgemeinhaltung unserer Gesellschaft gehört. Nicht etwa in der Arbeistwelt, wo der urkapitalistische Leistungsgedanke einer gewaltige Hausse hat – Eliteuniversitäten, Exzellenzinitiativen und Konkurrenzdruck prägen die gesellschaftlichen Strukturen der restaurativen Epoche des beginnenden 21. Jahrhunderts. Ganz offenbar ist die leichte Konsumierbarkeit in der Welt außerhalb des monetären Überlebenskampf hilfreich bei der Verteidigung der anzustrebenden Pfründe. Oder anders: Wenn ich mich so durchbeißen muß, belastet mich alles andere. Und möglicherweise schwingt auch die Angst mit, wertvolle Ressourcen, die dem Fortkommen dienen könnten, zu verschwenden.
So sehen wir denn in der Leichtigkeitsmaschine Nr. 1, dem Fernsehen, all das, was eingängig ist. Abfragespielchen suggerieren Wissen, Talentwettbewerbe, deren oberste Maxime das “du kannst es schaffen, wenn du hart arbeitest” ist, gaukeln Künstlerkarrieren vor, und was nicht drei, zehn oder hundert Tenöre zum Besten geben, ist nicht gefragt, jedenfalls nicht in dieser medialen Gesellschaft. Das trägt weit, unlängst konnte man beobachten, mit welchen Marketingmaßnahmen das Bode-Museum in Berlin glaubt, Renaissance-Portraits “volksnah” an den Mann bringen zu können. Auch hier herrscht Angst vor, der bloße Anblick von Kunst sei ohne das ranschmeisserische Getröte (“Muse, Nymphe, It-Girl”) nicht zu ertragen, zu schwer, zu unnahbar.
Dieses Diktum herrscht vor, da sieht man Plakate für Orchester, die aussehen wie Mineralwasserwerbung – es ist Sommer – und bei all den jungen Talenten, die aussehen sollen wie aus einer Beauty-Broschüre der Firma mit der blauen Cremedose, kommt einem auf gar keinen Fall der Gedanke, es könne sich um “ernsthafte” Künstler handeln. Es ruft sehr laut “Schwellenängste abbauen” und “young … sexy … culture”.
Nun ist vor einem dreiviertel Jahr in der ehrenwerten und rührigen Gesellschaftsbibliothek der edition Körber-Stiftung ein Buch erschienen, daß all das beobachtet hat und am Beispiel der sogenannten “E‑Musik” analysiert. Es ist keine Klage aus der Reihe der Pisaanprangerer – als solches wurde es hie und da durch das mediale Dorf gehetzt und der Autor Holger Noltze entsprechend präsentiert. Dabei ist der nun ausgerechnet vom Fach, ein gestandener Medienprofi, der unter anderem für verschiedene Kulturredaktionen des Westdeutschen Rundfunks arbeitet. Sein Buch heißt “Die Leichtigkeitslüge”. Das kommt uns nun bekannt vor.
In der Tat beschäftigt sich Noltze sehr intensiv mit den Scheinfragen der Kulturszene. Es geht um Vermarktung und Vermittlung, um Wirtschaftlichkeit und um Verlustängste, materielle und kulturimmanente. Über allem steht die Idee, daß eine jede Beschäftigung mit komplexen Inhalten eine intensive Auseinandersetzung mit denselben verlangt und eben nicht durch bloßes “Heranführen” rezipiert werden kann. Da Holger Noltze schreiben kann, ist das schön zu lesen und so manches Mal ist das Wiedererkennen der analytischen Ausgangssituation ein durch und durch erfreulicher Moment, der bei genauer Betrachtung zu zustimmendem Nicken zwingt. Gelegentlich wird das bösartig, wie die folgende Textprobe dokumentiert. Es geht um eine Gala zur “schönsten Oper aller Zeiten”:
“Dafür, möchte man aber gleich zu Beginn rufen, als es um “Verführungsopern” geht, ist Carmen doch nicht gestorben, daß hier immer noch das alte Stück vom kompetenten, liebenswert verspulten Mann und der schönen, uninformierten, aber gelehrigen Blondine wieder und wieder nachgespielt wird, die artig Bittebitte macht, damit der Onkel am Ende endlich seine Geige hervorholt. “Gänsehaut jedenfalls schon mal zum Beginn”, strahlt sie, als Ildebrando d’Arcangelo den Don Giovanni gibt und sich alle freuen, was für ein strammer Kerl der doch war beziehungsweise ist. (…)”
Es ist nicht freundlich, offenhemdige Violinvirtuosen und ehemalige Bravo-Girls bloßzustellen, aber die Bloßstellung ist methodisch sauber. An vielen solchen Beispielen wird deutlich mit welcher Systematik und auch Verzweiflung offensichtliche und vermeintliche “Hochkultur” in einen absatzfähigen Markt zu schieben. Dem beigegeben ist eine Kultur der Bewahrung von Werten, eine konservatorische Leistung besonderer Provenienz. Noltzes Buch fokussiert den Klassik-Markt, läßt sich aber auch auf beliebige andere Bereiche übertragen. Die Geilheit nach der Eventisierung, die Sexiness des Autors, wahlweise auch Schauspielers oder jeden anderen Künstlers, all das findet im Kulturbetrieb großflächig statt. Das hat vor vielen Jahren schon einmal der Autor Joachim Lottmann in der Zeit großartig persifliert, als er die damalige Jungautorin Alexa Hennig von Lange im Nabokov-Stil für die Wochenzeitung DIE ZEIT “interviewte”.
Holger Noltze hat ein wichtiges Buch geschrieben, daß vor allem eine Essenz haben kann: Es ist stets und immer wichtig, sich jedweder Kunst zu öffnen, ganz gleich wie komplex sie daherkommt. Oder um es mit Walter Giller in seiner 1987(!) eingestellten Sendung “Locker vom Hocker” zu sagen: “Es bleibt schwierig.”
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Lieber Matthias,
vielen Dank für den Beitrag zu Noltze: ich freue mich, daß er offensichtlich mit seiner Leichtigkeitslüge eine breitere Diskussion angestoßen hat: war wohl auch was im Fernsehen mit dem Chefvermittler der Elbphilharmonie und was im letzten “Orchester” (Zeitschrift der DOV).
Ja, es wird Zeit zu zeigen, daß es auch in diesem Bereich eine Premiumqualität gibt, von der Populisten und Fastfood-Kulturelle keine Ahnung haben und daß die Menschen durchaus auch gute Kost vertragen!!
Viele Grüße
Thomas