Ich habe ja wirklich ein bisschen gebraucht, um den nächsten Tag zu beginnen. Thilo hatte mir ja Wahrheit versprochen, das ist ja eigentlich eine gute Motivation. Aber ich habe natürlich auch ein bisschen Angst vor der Wahrheit.
Aber erst mal ist alles ziemlich vertraut: Zahlen, Daten, Tabellen. Es hat mich ja nicht so ganz losgelassen, warum einer mit so viel Material in der Gegend herumwirft, um ein Thema zu stützen, das so ganz noch nicht klar ist, jedenfalls auf Seite 100 noch nicht. Wenn man sich dieses Bild mit den drei ikonographischen Einheiten Rucksack – Schnauzer – Trenchcoat so anschaut, dann kommen einem so merkwürdige Gedanken hoch. Das sieht (Trenchcoat, Bart) so zutiefst bürgerlich-konservativ aus, dass der jugendliche Rucksack geradezu ironisch wirkt. Aber immerhin ist so ein Teil ja was solide-verlässliches und da passt es dann wieder. Das mit den Zahlen ist ja schon was Sicherheitsgebendes, “die Zahlen lügen nicht”, jedenfalls nicht so richtig. Mir scheint – je länger ich drüber nachdenke – das Solide, das Verläßliche ist ihm wichtig.
Damit geht das auch erst mal weiter, auch für die Armut gibt es eine Definition, diesmal kommt sie aus Indien (eigentlich logisch, da sind sie doch ganz schön arm, von hier aus gesehen). Nach einigem hin- und herkapiteln steht da ein schöner Satz: “Nicht die materielle, sondern die geistige und moralische Armut ist das Problem”. Da hat er wahrscheinlich recht, das ist immer ein Problem, das mit der Moral. Soll heißen, dass, wenn ich die Möglichkeit habe, ein fauler Sack zu sein und ich das auch nutze, denn das ist unmoralisch. Ergo, und da sind wir dann bei der versprochenen Wahrheit, ist das verachtenswürdig und schädigt den Staat. Naja, das waren jetzt immerhin 50 Seiten … zum Glück war die Wahrheit jetzt nicht so furchtbar, dass man sich nicht weitertraut …
Ich gebe ja zu, ich habe ein paar Seiten überflogen. Da ging es um das Vermeiden des fauler-Sacktums durch die Politik und Arbeitsanreize usw. Aber dann blieb ich an der Überschrift “Der Bildungskanon als hierarchische Struktur oder Wie ich lesen lernte” hängen …
Ich will ja eigentlich wissen, was den Mann bewegt, so ein Buch zu schreiben und da steht bestimmt was über ihn drin, dachte ich. Bislang habe ich ja nur gelernt, dass er Zahlen liebt und einen Mantel hat. Also erfahre ich, dass er ein Bücherwurm war und unter einem Goetheportrait im Ohrensessel Tausendundeine Nacht und die “Große illustrierte Weltgeschichte” las. Und natürlich gab es viele Klassiker, denn der “wachsende Wohlstand” der Familie wurde in Klassikerausgaben angelegt – natürlich nicht ausschließlich. Was für ein warmes hausväterliches Bild für einen 9‑Jährigen. Erwähnenswert ist, dass er in der “Sexta” (humanistisch!) war und dass es an einem Gymnasium der 50er Jahre eine strenge Auslese bis zum Abitur gab.
Natürlich erzählt er das nicht, um seine schöne Kindheit zu beschreiben. Denn gleich im Anschluss an die Schilderung dieser Welt, die mich immer noch an Diederich Hessling denken lässt, tauchen so hässliche Worte wie “World of Warcraft” auf. Wenn man das spielt, dann hat man nämlich keine Zeit zum Lesen, und “Lesefähigkeit, Textverständnis und das dadurch ermöglichte Generalwissen ist die Kernkompetenz der Bildungsvermittlung.” Dann kommen ein paar Seiten über die immer schlechter werdenden Schulbücher und darüber bin ich eingeschlafen. Traumlos. Ob das was zu bedeuten hat?
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