Es geht bergab, das sieht man sofort, und die Welt ist in Schieflage. Die ersten Reihen des Schauspielhauses sind überbaut von einer Schräge. An den Bühnenrändern stehen Lampen mit Stoffschirm, wie man sie auf Omas Beistelltischchen findet. Auf der Bühnenrückseite am eisernen Vorhang darf der Pianist sitzen, und zu seiner Linken findet sich ein Stühlestapel, der bis hoch zum Portal reicht. Das Setting ist ein surreales, und gleich zu Beginn dürfen zwei Conferencier-Damen in schönen Strumpfhosen einen kleinen Schnellkurs durch Weimarer Republik und deutsche Geschichte jammen.
Sie haben zudem Geige und Akkordeon und stellen uns musikalisch und recht lapidar die Personnage des Abends vor: Familie von Essenbeck in ihren verwirrenden Verschränkungen und Verzweigungen. Und sogleich kommen wir zu Problem Nummer eins dieses Abends: Als ob die Konstellationen nicht bereits verwirrend genug wären, hat Stephan Kimmig dem Ganzen noch eins draufgesetzt: Mehrere Rollen pro Schauspieler geben letzteren zwar ordentlich Spielmaterial an die Hand, stürzen das Publikum aber wiederholt in Verzweiflung. Mehrfach hört man es rascheln in den Reihen – immer dann, wenn wieder jemand das Programmheft zur Hand nimmt, in dessen Innenseite sich dankenswerterweise ein Familienstammbaum mit Schauspielerfotos findet.
Die Familie Krupp, sogenannte “Waffenschmiede der Nation”, bildete Viscontis Vorlage zu seinem Film “Die Verdammten” von 1969. Um eine „Familientragödie von antiker Wucht“ gehe es darin laut Programmheft, um eine großbürgerliche Elite, die „sich selbst zu Fall bringt“. Und hier sind wir bereits bei Schwachpunkt Nummer zwei: Die Grundlage der griechischen Tragödie, die das Scheitern bedingt, ist hier nicht gegeben: die Fallhöhe. Von Anbeginn des Abends an wird die Bühne von einer Handvoll degenerierter Typen bevölkert, die eigentlich kaum noch tiefer fallen können. Wo keine Fassade zu sehen ist, kann auch keine bröckeln.
Baron Joachim von Essenbeck ist ein Patriarch wie er im Buche steht. Er hat Geburtstag, wie wir einem kleinen Geburtstagsständchen-Medley der Conferencier-Damen entnehmen. Eine illustre Angelegenheit: Die gesamte Familie muss antreten, und keiner kann es richtig machen. Enkel Günther ist so aufgeregt vor seinem Vortrag, dass Kimmig ihn zunächst im Schweinsgalopp über die Bühne jagen lässt, damit er atemlos und keuchend vor Aufregung vor dem übermächtigen Großvater kaum ein Wort herausbringt.
Enkel Martin von Essenbeck – Achtung: dargestellt von demselben Schauspieler wie Patriarch Essenbeck! – ist zum Großvater-Geburtstag noch klein und hat Welpenschutz. Im Seiden-Negligee bringt er die Chanson-Nummer “Kinder, heut’ Abend, da such’ ich mir was aus”. Seine Darbietung gerät zum skurrilen Tanz auf dem Vulkan – und mündet in der Nachricht vom Brand des Reichstags.
Dopplungen wie die von Großvater und Enkel stiften nicht nur Verwirrung – sie wirken leider auch unfreiwillig komisch. Was Markus John da in 3(!) Rollen spielt, ist durchaus beeindruckend. Allerdings: Wenn der Mörder des Patriarchen (Friedrich Bruckmann, der Geliebte der Patriarchengattin) vom gleichen Schauspieler gespielt wird wie der Patriarch selbst, kann das nur zur Slapstick-Nummer verkommen. Der Gedanke dahinter ist klar: Jeder kann Opfer, jeder Täter sein. Doch wenn das nur Programmheft-Rascheln im Publikum bewirkt, kommt die Frage auf, ob Theater durch Konzeptlastigkeit immer gewinnt.
Bevor wir uns im Detail verlieren: “Der Fall der Götter” ist eine Geschichte von großer Wucht. Um nur einen Bruchteil an Tragödien-Potential zu nennen: eine machtgierige Lady Macbeth in der Figur der Freifrau Sophie von Essenbeck; eine explosive Konstellation zweier Schwager, der eine Kommunist, der andere Nazi-Charge erster Güte; ein Sohn, der durch seine übermächtige Mutter zum Kinderschänder wird, zugleich der degenerierte, pervertierte Familienspross, der als Generaldirektor die Stahlwerke leiten soll; ein Familienunternehmen, das sich auf dem ständigen Grenzgang zwischen Opportunismus und Eigenständigkeit fast zu Grunde richtet.
Kimmigs Konzept ist ehrgeizig, und er scheint sich damit überhoben zu haben. Er will ein Panorama über den Niedergang einer Klasse ebenso erzählen wie eine ganz private Familientragödie. Er will den Abstand zum Geschehen ebenso sehr wie die Einfühlung. Er will eine Parabel zeigen über Macht. Dermaßen überfrachtet glaubt sich der Abend am Ende anscheinend selbst nicht mehr.
bin großer Fan von Frau Fingerhut