Ob der Komponist Vincenzo Bellini ein Carbonaio war, ist nicht erwiesen. Möglicherweise aber war er ein Sympathisant des Geheimbundes der Carbonari. Diese in den Strukturen den Freimaurern ähnliche Vereinigung war eine der Gruppierungen, die im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts jene Bewegung anstießen, die später als Risorgimento, die »Wiedererstehung«, in die Geschichte des zerrissenen Landes eingehen sollte.
Bellini war Sizilianer, er studierte seine Kunst also folgerichtig in Neapel, der Haupstadt jenes süditalienischen Staatengebildes, das Regno delle Due Sicilie (Königreich beider Sizilien) genannt wurde. Die Geschichte Italiens jener Epoche ist nach der Besetzung durch napoleonische Truppen und den kontinuierlichen Machtansprüchen des Habsburgerreiches in der darauffolgenden Restauration verworren und unübersichtlich wie in kaum einem anderen Land Europas. Sie ist nicht nur für die nachfolgenden Generationen nicht leicht zu durchschauen, sondern das Ringen um die Identität des Landes musste auch für die Zeitgenossen ein hohes Maß der Verunsicherung und Instabilität bedeutet haben. Was lag da näher, als sich den Zerstreuungen des schönen Klangs hinzugeben – in diesen Jahren entstand das, was man heute gemeinhin als Belcanto-Oper bezeichnet.
Das Melodramma tragico “I Capuleti e i Montecchi” gehört mit seinem Entstehungsjahr 1830 in diese Zeit und trägt alle Merkmale, die für seinen Komponisten so bezeichnend sind. Zunächst das von Bellinis Hauslibrettisten Felice Romani verfasste Libretto, einer sehr schlichten Version des Romeo und Julia-Stoffes. Mit Shakespeare hat die Geschichte nur ein wenig zu tun, die Werke des Engländers waren zu dieser Zeit in Italien noch recht unbekannt. Was bleibt, ist die melodramatische Grundhandlung – die Betonung liegt dabei durchaus auf dem melos: Die durch den Familienzwist getrennten Liebenden, den Geschlechterstreut und das durch den Irrtum verursachte Ende.
Zudem, und das vor allem, jene besondere Art der gesanglich schmeichelnden Tonsetzung, eine Silbe, ein Ton – kurz, eine den Gesang präferierende und Virtuosität wie höchste Akkuratesse verlangende Ästhetik, deren Opulenz ganz in die Hand der Sänger gelegt wird. Ein Ansatz aus einer restaurativen Zeit, der ohne Frage in die Gegenwart des frühen 21. Jahrhunderts passt, dessen Verunsicherungen anderer Art, doch stets gegenwärtig sind.
Solch ein Werk auf den Spielplan zu setzen, erfordert, noch im Zeitalter allgemeiner psychologischer Durchdringung einer jedweden Textvorlage und der vielen postanalytischen Interpretationen, einen gewissen Mut. Zu schnell werden solche Vorlagen als “leicht” und auch als solipsistisch abgetan, selten einmal kommt dabei mehr heraus als konzertant brillantes, aber inszenatorisch tief ennuierends Aufführungsmaterial.
Wer mit solcherlei Erwägungen im Gepäck nach Lübeck fährt, wo man sich Bellinis I Capuleti e i Montecchi angenommen hat, wird tief enttäuscht werden. Denn der junge Regisseur Michael Sturm findet eine Haltung zum eigentlich dramatisch schwachen Stoff, und er trifft dabei möglicherweise einen Kern, der völlig kohärent zur historischen Epoche der Entstehung dieses Stückes ist.
Wir sehen die Rivalität der verfeindeten Familien der beiden Liebenden als Auseinandersetzung zweier Männergesellschaften – in Trenchcoat und Fedora, dem weichen Filzhut, der als Accessoire jener italienischen Männerbünde zwischen Cosa nostra und Camorra, die ikonische Selbstvergewisserung von kriminellem Machismo und Clanehre repräsentiert. So stolziert der Chor als “la Famiglia” umher und auch Romeo Montecchi, ist in seinem kurzen Staubmantel und dem erwähnten Hut mehr als einmal eine optische Inkarnation von “Le samouraï”, Alain Delons eiskaltem Killer-Engel aus dem gleichnamigen Film von Jean-Pierre Melville.
Löst man sich von der von Shakespeare bekannten Geschichte zwischen Ghibellinen und Guelfen, von Verona und der Nachtigall, die uns aus dem Drama so vertraut erscheinen und tief in das kulturelle Bewusstsein eingedrungen ist, dann ist dieser Konflikt ein Spiegel der italienischen Geschichte, die Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Clangruppen, Provinzregimes, Macht- und Herrschaftsinteressen kleiner Duodezfürstentümer – und ein Abbild der Zeit vor der angestrebten Einigung des Landes, der Zeit Bellinis. Vor dieser Folie wirkt all das Schönsängerische nicht mehr als Selbstzweck, als pure Kunstfertigkeit, sondern bekommt eine historische Basis. Der Stoff gibt das allemal her, nicht von ungefähr heißt es dort in der fünften Szene des zweiten Aktes, als wieder einmal der gegnerischen Partei Rache und Vergeltung geschworen wird:
Al furor che si ridesta Alla strage che s’ appresta. Come scossa da tremuoto Tutta Italia tremerà. |
Von des Kampfes wilden Stürmen, Die sich tobend nun erheben, Soll Italien erbeben, Zittern selbst des Meeres Strand! |
Tutta Italia, das ganze Italien, dieser Staat sollte vierzig Jahre später erst entstehen.
Angesichts dieser Geschichte bedarf es vor allem der Hingabe an die Musikalität der Vorlage, ein sich hineingeben in Klang und Struktur, in die Attitüde und Opulenz. Andreas Wolf leitet sein Lübecker Orchester entsprechend an und wirft sich schon im Vorspiel zur Gänze in das Bellinische Sirren und Flirren. Bella Figura nennt man so etwas wohl auch im Dirigat. Man sieht, wie es sich gehört, worum es geht – Romeo hantiert mit der Spraydose und macht ganz Verona klar, das es nur eine mögliche Verbindung gibt, die zwischen Romeo und Julia im Herz-Graffito an der hölzernen Bühnenwand. (Ausstattung: Stefan Rieckhoff)
So ist es denn – natürlich, nach all der Vorgeschichte – ein Sängerabend. Andrey Valiguras gibt Julias Vater, Capellio, große Standfestigkeit, Daniel Jenz ist ein geschmeidiger und sicherer Tenor als Gegenspieler Romeos, der Chor singt mafiös, zur aller Begeisterung und zum Wohle der Geschichte unter Männern. Doch die sind trotz ihre großen Präsenz auf der Bühne eigentlich Nebensache in einem Stück, das für zwei Frauenstimmen geschrieben ist, und das eigentlich ausschließlich für diese.
Lübecks stets auffällige Stamm-Sopranistin Evmorfia Metaxaki erfüllt auch hier alle Anforderungen, die ihr die Rolle der jungen Giuletta stellt – sie verfügt über jene Fertigkeiten, die man am Belcanto so schätzt: Eine fasziniernd warme Mezza Voce, strahlende Höhen, und ein gleichermaßen schlankes wie bewegliches Organ, das auch in den Höhen die Sicherheit ausstrahlt, die solche Partien verlangen. Ihrer Giuletta fehlt es fürwahr nicht an Anmut, an sängerischer Grazie. Gleichwohl hat sie den schwersten Part.
Denn ihr Romeo ist die fulminante Wioletta Hebrowska, der ohne Zweifel der Abend zur Gänze gehört. Nicht allein deren stets und immer wieder faszinierend geradlinige Phrasierung, die Sicherheit in allen Registern, die Bellini von gewaltigen Tiefen bis in die Höhen des Faches auslotet, ist so ungemein einnehmend. Es ist vor allem ihr ebenso geradliniges Spiel, das so unüblich für die Gattung ist und ihren Figuren jene Lebendigkeit gibt, die dem heutigen Musiktheater nach vielen Epochen darstellerischen Darbens so guttut.
Angesichts der dramaturgischen Defizite der Vorlage ist das nur um so wichtiger. Wenn ihr Romeo blitzenden Auges und eifrig tänzelnd zum Rendezvous der Balkonszene eilt, wenn er sich voller Erwartung tastend und vorsichtig balancierend seinen Weg sucht, dann hüpft das Herz vor Freude ob solch starker theatraler Momente, auch wenn Sujet und Szene so bekannt sind wie diese.
Diese darstellerische Verspieltheit passt so gar nicht in die Vorstellung opernhafter Posen, sondern zeigt vor allem ein starkes physisches Gespür für theatralisches Timing und Rhythmus. Sie vermag in dieser Fähigkeit ebenso anzurühren wie im Gesang, und trifft auch damit ganz die Idee des Belcanto, den jeweils grösstmöglichen emotionalen Effekt zu erzielen. Es heißt, der Sizilianer Bellini hätte die Partie des Romeo für seine Geliebte Giuditta Grisi geschrieben. Er hätte sich hier, im Norden, ganz gewiss neu verliebt.
In memoria delle tre Giuditte.
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