Tutta Italia

Vincenzo Belliniis »I Capuleti e i Montecchi« an der Lübecker Oper

Bellini
Sternenklar (BIld: Oliver Fantitsch)

Ob der Kom­po­nist Vin­cen­zo Bel­li­ni ein Car­bo­naio war, ist nicht erwie­sen. Mög­li­cher­wei­se aber war er ein Sym­pa­thi­sant des Geheim­bun­des der Car­bo­na­ri. Die­se in den Struk­tu­ren den Frei­mau­rern ähn­li­che Ver­ei­ni­gung war eine der Grup­pie­run­gen, die im ers­ten Drit­tel des 19. Jahr­hun­derts jene Bewe­gung anstie­ßen, die spä­ter als Risor­gi­men­to, die »Wie­der­erste­hung«, in die Geschich­te des zer­ris­se­nen Lan­des ein­ge­hen sollte.

Bel­li­ni war Sizi­lia­ner, er stu­dier­te sei­ne Kunst also fol­ge­rich­tig in Nea­pel, der Haup­stadt jenes süd­ita­lie­ni­schen Staa­ten­ge­bil­des, das Reg­no del­le Due Sici­lie (König­reich bei­der Sizi­li­en) genannt wur­de. Die Geschich­te Ita­li­ens jener Epo­che ist nach der Beset­zung durch napo­leo­ni­sche Trup­pen und den kon­ti­nu­ier­li­chen Macht­an­sprü­chen des Habs­bur­ger­rei­ches in der dar­auf­fol­gen­den Restau­ra­ti­on ver­wor­ren und unüber­sicht­lich wie in kaum einem ande­ren Land Euro­pas. Sie ist nicht nur für die nach­fol­gen­den Gene­ra­tio­nen nicht leicht zu durch­schau­en, son­dern das Rin­gen um die Iden­ti­tät des Lan­des muss­te auch für die Zeit­ge­nos­sen ein hohes Maß der Ver­un­si­che­rung und Insta­bi­li­tät bedeu­tet haben. Was lag da näher, als sich den Zer­streu­un­gen des schö­nen Klangs hin­zu­ge­ben – in die­sen Jah­ren ent­stand das, was man heu­te gemein­hin als Bel­can­to-Oper bezeichnet.

Das Melo­d­ram­ma tra­gi­co »I Capu­leti e i Mon­tec­chi« gehört mit sei­nem Ent­ste­hungs­jahr 1830 in die­se Zeit und trägt alle Merk­ma­le, die für sei­nen Kom­po­nis­ten so bezeich­nend sind. Zunächst das von Bel­li­nis Haus­li­bret­tis­ten Feli­ce Roma­ni ver­fass­te Libret­to, einer sehr schlich­ten Ver­si­on des Romeo und Julia-Stof­fes. Mit Shake­speare hat die Geschich­te nur ein wenig zu tun, die Wer­ke des Eng­län­ders waren zu die­ser Zeit in Ita­li­en noch recht unbe­kannt. Was bleibt, ist die melo­dra­ma­ti­sche Grund­hand­lung – die Beto­nung liegt dabei durch­aus auf dem melos: Die durch den Fami­li­en­zwist getrenn­ten Lie­ben­den, den Geschlech­ter­streut und das durch den Irr­tum ver­ur­sach­te Ende.

Zudem, und das vor allem, jene beson­de­re Art der gesang­lich schmei­cheln­den Ton­set­zung, eine Sil­be, ein Ton – kurz, eine den Gesang prä­fe­rie­ren­de und Vir­tuo­si­tät wie höchs­te Akku­ra­tes­se ver­lan­gen­de Ästhe­tik, deren Opu­lenz ganz in die Hand der Sän­ger gelegt wird. Ein Ansatz aus einer restau­ra­ti­ven Zeit, der ohne Fra­ge in die Gegen­wart des frü­hen 21. Jahr­hun­derts passt, des­sen Ver­un­si­che­run­gen ande­rer Art, doch stets gegen­wär­tig sind.

Solch ein Werk auf den Spiel­plan zu set­zen, erfor­dert, noch im Zeit­al­ter all­ge­mei­ner psy­cho­lo­gi­scher Durch­drin­gung einer jed­we­den Text­vor­la­ge und der vie­len post­ana­ly­ti­schen Inter­pre­ta­tio­nen, einen gewis­sen Mut. Zu schnell wer­den sol­che Vor­la­gen als »leicht« und auch als solip­sis­tisch abge­tan, sel­ten ein­mal kommt dabei mehr her­aus als kon­zer­tant bril­lan­tes, aber insze­na­to­risch tief ennu­ie­rends Aufführungsmaterial.

Wer mit sol­cher­lei Erwä­gun­gen im Gepäck nach Lübeck fährt, wo man sich Bel­li­nis I Capu­leti e i Mon­tec­chi ange­nom­men hat, wird tief ent­täuscht wer­den. Denn der jun­ge Regis­seur Micha­el Sturm fin­det eine Hal­tung zum eigent­lich dra­ma­tisch schwa­chen Stoff, und er trifft dabei mög­li­cher­wei­se einen Kern, der völ­lig kohä­rent zur his­to­ri­schen Epo­che der Ent­ste­hung die­ses Stü­ckes ist.

Wir sehen die Riva­li­tät der ver­fein­de­ten Fami­li­en der bei­den Lie­ben­den als Aus­ein­an­der­set­zung zwei­er Män­ner­ge­sell­schaf­ten – in Trench­coat und Fedo­ra, dem wei­chen Filz­hut, der als Acces­soire jener ita­lie­ni­schen Män­ner­bün­de zwi­schen Cosa nos­t­ra und Camor­ra, die iko­ni­sche Selbst­ver­ge­wis­se­rung von kri­mi­nel­lem Machis­mo und Claneh­re reprä­sen­tiert. So stol­ziert der Chor als »la Fami­glia« umher und auch Romeo Mon­tec­chi, ist in sei­nem kur­zen Staub­man­tel und dem erwähn­ten Hut mehr als ein­mal eine opti­sche Inkar­na­ti­on von »Le samou­raï«, Alain Delons eis­kal­tem Kil­ler-Engel aus dem gleich­na­mi­gen Film von Jean-Pierre Mel­ville.

Löst man sich von der von Shake­speare bekann­ten Geschich­te zwi­schen Ghi­bel­li­nen und Guel­fen, von Vero­na und der Nach­ti­gall, die uns aus dem Dra­ma so ver­traut erschei­nen und tief in das kul­tu­rel­le Bewusst­sein ein­ge­drun­gen ist, dann ist die­ser Kon­flikt ein Spie­gel der ita­lie­ni­schen Geschich­te, die Aus­ein­an­der­set­zung zwi­schen unter­schied­li­chen Clan­grup­pen, Pro­vinz­re­gimes, Macht- und Herr­schafts­in­ter­es­sen klei­ner Duo­dez­fürs­ten­tü­mer – und ein Abbild der Zeit vor der ange­streb­ten Eini­gung des Lan­des, der Zeit Bel­li­nis. Vor die­ser Folie wirkt all das Schön­sän­ge­ri­sche nicht mehr als Selbst­zweck, als pure Kunst­fer­tig­keit, son­dern bekommt eine his­to­ri­sche Basis. Der Stoff gibt das alle­mal her, nicht von unge­fähr heißt es dort in der fünf­ten Sze­ne des zwei­ten Aktes, als wie­der ein­mal der geg­ne­ri­schen Par­tei Rache und Ver­gel­tung geschwo­ren wird:

Al furor che si ridesta 
Alla stra­ge che s’ appresta.
Come scos­sa da tremuoto 
Tut­ta Ita­lia tremerà.
Von des Kamp­fes wil­den Stürmen,
Die sich tobend nun erheben,
Soll Ita­li­en erbeben,
Zit­tern selbst des Mee­res Strand!

Tut­ta Ita­lia, das gan­ze Ita­li­en, die­ser Staat soll­te vier­zig Jah­re spä­ter erst entstehen.

Ange­sichts die­ser Geschich­te bedarf es vor allem der Hin­ga­be an die Musi­ka­li­tät der Vor­la­ge, ein sich hin­ein­ge­ben in Klang und Struk­tur, in die Atti­tü­de und Opu­lenz. Andre­as Wolf lei­tet sein Lübe­cker Orches­ter ent­spre­chend an und wirft sich schon im Vor­spiel zur Gän­ze in das Bel­li­ni­sche Sir­ren und Flir­ren. Bel­la Figu­ra nennt man so etwas wohl auch im Diri­gat. Man sieht, wie es sich gehört, wor­um es geht – Romeo han­tiert mit der Spray­do­se und macht ganz Vero­na klar, das es nur eine mög­li­che Ver­bin­dung gibt, die zwi­schen Romeo und Julia im Herz-Graf­fi­to an der höl­zer­nen Büh­nen­wand. (Aus­stat­tung: Ste­fan Rieck­hoff)

So ist es denn – natür­lich, nach all der Vor­ge­schich­te – ein Sän­ger­abend. Andrey Vali­gu­ras gibt Juli­as Vater, Capel­lio, gro­ße Stand­fes­tig­keit, Dani­el Jenz ist ein geschmei­di­ger und siche­rer Tenor als Gegen­spie­ler Rome­os, der Chor singt mafi­ös, zur aller Begeis­te­rung und zum Woh­le der Geschich­te unter Män­nern. Doch die sind trotz ihre gro­ßen Prä­senz auf der Büh­ne eigent­lich Neben­sa­che in einem Stück, das für zwei Frau­en­stim­men geschrie­ben ist, und das eigent­lich aus­schließ­lich für diese.

Lübecks stets auf­fäl­li­ge Stamm-Sopra­nis­tin Evmor­fia Meta­xa­ki erfüllt auch hier alle Anfor­de­run­gen, die ihr die Rol­le der jun­gen Giu­let­ta stellt – sie ver­fügt über jene Fer­tig­kei­ten, die man am Bel­can­to so schätzt: Eine fas­zi­niernd war­me Mez­za Voce, strah­len­de Höhen, und ein glei­cher­ma­ßen schlan­kes wie beweg­li­ches Organ, das auch in den Höhen die Sicher­heit aus­strahlt, die sol­che Par­tien ver­lan­gen. Ihrer Giu­let­ta fehlt es für­wahr nicht an Anmut, an sän­ge­ri­scher Gra­zie. Gleich­wohl hat sie den schwers­ten Part.

Denn ihr Romeo ist die ful­mi­nan­te Wio­let­ta Hebrows­ka, der ohne Zwei­fel der Abend zur Gän­ze gehört. Nicht allein deren stets und immer wie­der fas­zi­nie­rend gerad­li­ni­ge Phra­sie­rung, die Sicher­heit in allen Regis­tern, die Bel­li­ni von gewal­ti­gen Tie­fen bis in die Höhen des Faches aus­lo­tet, ist so unge­mein ein­neh­mend. Es ist vor allem ihr eben­so gerad­li­ni­ges Spiel, das so unüb­lich für die Gat­tung ist und ihren Figu­ren jene Leben­dig­keit gibt, die dem heu­ti­gen Musik­thea­ter nach vie­len Epo­chen dar­stel­le­ri­schen Dar­bens so guttut.

Ange­sichts der dra­ma­tur­gi­schen Defi­zi­te der Vor­la­ge ist das nur um so wich­ti­ger. Wenn ihr Romeo blit­zen­den Auges und eif­rig tän­zelnd zum Ren­dez­vous der Bal­kon­sze­ne eilt, wenn er sich vol­ler Erwar­tung tas­tend und vor­sich­tig balan­cie­rend sei­nen Weg sucht, dann hüpft das Herz vor Freu­de ob solch star­ker thea­tra­ler Momen­te, auch wenn Sujet und Sze­ne so bekannt sind wie diese.

Die­se dar­stel­le­ri­sche Ver­spielt­heit passt so gar nicht in die Vor­stel­lung opern­haf­ter Posen, son­dern zeigt vor allem ein star­kes phy­si­sches Gespür für thea­tra­li­sches Timing und Rhyth­mus. Sie ver­mag in die­ser Fähig­keit eben­so anzu­rüh­ren wie im Gesang, und trifft auch damit ganz die Idee des Bel­can­to, den jeweils grösst­mög­li­chen emo­tio­na­len Effekt zu erzie­len. Es heißt, der Sizi­lia­ner Bel­li­ni hät­te die Par­tie des Romeo für sei­ne Gelieb­te Giudit­ta Gri­si geschrie­ben. Er hät­te sich hier, im Nor­den, ganz gewiss neu verliebt.

In memo­ria del­le tre Giuditte.

Bellini
»Ancor di fio­ri spar­sa, mol­le di pian­to ancor« (Bild: Oli­ver Fantitsch)

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