Die Jahreszeit heißt Frühling und ist eigentlich eher wie ein Herbst. Ein klassischer Pianist spielt Elektro-Musik in einer Kirche, ein anderer rappt zum Klavier oder trommelt mit IKEA-Klobürsten auf die Saiten seines Instruments. Auf einem Werftgelände, auf dem sonst an Schiffen geschraubt wird, wird an Klängen geschraubt und es hängen riesige glitzernde Discokugeln in Kränen.
Das Festival, bei dem solche Dinge passieren, nennt sich “Elbjazz” und lockt an einem Mai-Wochenende wieder Tausende Besucher zu einem vor allem bunt gemischten musikalischen Programm rund um den Hamburger Hafen, zwischen Hafencity, Holzhafen und Blohm & Voss-Gelände.
Trotz der musikstilistischen Vorgabe im Namen wurde das Festivalprogramm dieses Jahr noch weiter in Richtung Pop gerückt. So etwas zieht Leute, die auch untergebracht werden müssen – es gibt mehr Spielorte, mehr Bühnen und mehr Clubs. Das bedeutet vor allem mehr Wege und leider auch nicht immer die Garantie auf Einlass, da gerade die kleineren Spielstätten schnell überfüllt sind.
Das Golem gibt in diesem Jahr sein Debüt als Festivalbühne, doch das Bild einer wartenden Menschentraube davor ist der typische Anblick, der sich dem Elbjazz-Besucher bietet. Was drinnen passiert, können nur die wenigen Glücklichen erleben, die sich rechtzeitig drinnen einen Platz sichern konnten. Wie Elbjazz-Leiterin Tina Heine später am Abend sagt: “Um diese intimen Momente zu schaffen, müssen nun mal ein paar draußen bleiben.” Auch eine Haltung.
Die St. Pauli Kirche, die sich auch schon während des Reeperbahn-Festivals als Konzertort mit wunderbarer Akustik und Atmosphäre hervortun konnte, ist dieses Jahr auch mit von der Partie. Dort kann man am frühen Freitagabend dem Julia Hülsmanns Trio und ihrer Interpretationen von bislang ungesungenen Kurt Weill Liedern erleben, die mit der Unterstützung von Sänger Michael Schiefel ziemlich hinreißend vorgetragen werden. Das Atrium des Holzhafens bietet den atmosphärischen Charme einer modernen Hotellobby, so dass Charlie Wood in dieser Glaskasten-Atmosphäre am Klavier gegen den Hall ansingen und ‑spielen muss.
Auch die Kapazität der Fischauktionshalle kommt am Freitag gegen 21 Uhr an ihre Grenzen. Da wird es unruhig vor den Türen, als eine Traube verärgerter Besucher ihrem Ärger lautstark mit “Wir wollen rein“-Rufen und Hämmern gegen die Fensterscheiben und Eisentüren Luft macht. Drinnen wurden schon früh vorsorglich zahlreiche Stühle mit einem beliebigen textilen Objekt belegt, damit man sich seines Sitzplatzes sicher sein kann: Handtuchkrieg wie auf den Balearen.
Diese ganze Aufregung für diesen einen Mann: Chilly Gonzales, der das personifizierte musikalische Credo des Elbjazz zu sein scheint: Ein offener, spielerischer Umgang mit musikalischen Stilen und das Öffnen mehrerer Schubladen. Bei den Jazzern hieß so etwas früher “Fusion”.
Ein rappender Pianist mit großen Entertainer-Qualitäten, der über sich sagt “Ich schaue nach musikalischen Regeln, die ich brechen kann” – und so rappt er auch mal auf einen Walzer und spielt Beethovens 5. auf Bongos (“Respect for Ludwig van fucking Beethoven”). Während so etwas bei anderen vielleicht peinlich wirkt, bringt er die Menge zum Jubeln. Und es funktioniert generationsübergreifend: die älteren Zuhörer schwelgen in den Klängen von Flügel und Streicherbegleitung — es ist “Sooo schön!” – während er dazu rappt, “I hold a grudge like a rapper holding his crotch”.
Danach geht es auf einen Abstecher mit dem Rad durch den Alten Elbtunnel auf die andere Elbseite zum Blohm & Voss-Gelände, wo das eigentliche Herz des Elbjazz schlagen soll. Es ist mittlerweile 22.45 Uhr und die Maschinenbauhalle ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Auf der Bühne Herr Sorge alias Samy Deluxe mit Klavierbegleitung von Florian Weber, der Sprechgesang über irgendetwas zum Thema Weltverbesserung darbietet, so viel kann man auch von weit hinten noch erahnen. Reicht ja auch.
Auf der mittleren Bühne “Am Helgen” erspielt sich der junge norwegische Jazzsaxofonist Marius Neset mit seinem Quartett eine neue Fangemeinde, während nebenan bereits Popjazzer Jamie Cullum unüberhörbar seine Show beginnt. Der Headliner des Abends zieht die Menge wieder vor die Hauptbühne, so geht das eben. Und dazu ein bunter Hamburger Abendhimmel, der die Leinwand für eine hübsch beleuchtete Industriekulisse am Wasser der Elbe bietet, und dazu so eine Art Jazzband auf der Bühne. Hier spürt man dann doch zum ersten Mal das Flair, den der Name des Festivals eigentlich verspricht.
Der Freitagabend endet weit nach Mitternacht auf der anderen Seite der Elbe in der Fischauktionshalle. An drei verschiedenen Tasteninstrumenten tritt Nils Frahm auf. Das als gemeinsamer Act mit Vibraphonist Pascal Schumacher angekündigte Set entpuppt sich zur Hälfte dann doch als Soloauftritt.
So liefert Schumacher erst ab dem zweiten Drittel Nils Frahm klanglich zu, während Frahm den Ton angibt. Ein Höhepunkt dieses Auftritts ist die percussionistische Einlage, bei der sie gemeinsam rhythmisch den Korpus und die Saiten des Flügels mit zu billigen Schlegeln umfunktionierten Klobürsten bearbeiten. Eingelullt vom hypnotisierenden Klang des Klavierspiel Frahms, Synthesizer und Vibraphon kann man schon einmal völlig die Zeit vergessen, bis ein Techniker “10 minutes left” gut sichtbar für alle auf dem iPad anzeigt. Moderne Zeiten.
Am Samstag sind dann alle Hoffnungen auf einen weiteren trockenen Elbjazz-Tag verflogen – Hamburger Herbst im Frühjahr eben, Gummistiefel und die Regenjacke gehören da zur Pflichtausrüstung. Erst am frühen Abend, zum Ende des Auftritts von Lokalmatador Nils Wülker, können die Regenschirme zum ersten Mal an diesem Tag wieder eingeholt werden und die Hände sind wieder frei zum Applaudieren. Tuen sie dann auch.
Bei The Notwist, die danach auf derselben Bühne “Am Helgen“ stehen, fühlt man sich dann doch plötzlich eher wieder wie auf einem Indiefestival. Die Band stand zwar schon immer durch Kollaborationen mit Musikern und Anleihen in ihrer eigenen Musik der Jazzmusik nah, doch irgendwie wirken sie hier etwas fehl am Platz, obwohl sie, Elbjazz-kompatibel, noch eine Bläsersektion mitgebracht haben. Aber ein Blick ins Publikum zeigt, dass sich hier dann doch eher eine Indie-Hörerschaft versammelt hatte, um ihnen zu lauschen.
Auf der Hauptbühne haben es derweil die Blechbläser Ibrahim Maloouf oder die quirlige Lakecia Benjamin, trotz ihres sonnigen Gemüts, schwer, eine durchgefrorene Masse zu bewegen. Nasse Füße und die Kälte tragen dazu bei, dass man nicht so recht in Schwung kommen will. Und dann gewinnt auch noch an diesem Abend der falsche Verein die Champions League, natürlich gibt es selbst hier eine Großbildleinwand.
Zuflucht gegen diese widrigen Fußball- und Wetterverhältnisse auf dieser Seite der Elbe bietet nur die Maschinenbauhalle. Die lange Werkshalle scheint endlose Stuhlreihen zu beherbergen, und ganz am Ende einen kleinen älteren Mann mit Hut und einer Trompete, um ihn herum noch ein Flügel, ein Schlagzeug und ein Bass auf der Bühne. Zusammen das Tomasz Stańko New York Quartet, eine echte Jazz-All-Star-Band, konzentriert, entspannt, laid back und experimentierfreudig. Der über 70-jährige Stanko, Grandseigneur des europäischen Jazz, tritt selber häufig zurück, um seiner jungen Rhythmusgruppe Raum zu geben – “no Rain” in diesem Moment.
Bei den vier schwarz gekleideten smarten Briten Get The Blessing, die danach diese Bühne bespielen, springt der Funke dann aber wieder nicht so recht über. Irgendwie zu kühl, distanziert und zu wissenschaftlich, verkopft ist deren Auftritt. Also heißt es Abschied nehmen vom Blohm & Voss-Gelände und mit einer Barkasse wieder ans andere Ufer übersetzen. Als der Regen wieder einsetzen will, erweist sich die St.Pauli Kirche als heimeliger Zufluchtsort, der einen mit den letzten Klängen von Nils Wogram mit Simon Nabatov und wohltuender Wärme empfängt. Schade, davon hätte man jetzt doch noch mehr hören wollen.
Doch Pianist Francesco Tristano war dort noch für ein spätes Soloset im Programm angekündigt. Bereits einen Tag zuvor war er zusammen mit Bachar Kahlifé und Pascal Schumacher als Jazz-Trio aufgetreten, so ist die Erwartung der Zuschauer nun natürlich hoch. Als dann die ersten Reihen ihre Stühle räumen sollen, um Platz zum Tanzen zu schaffen, und auf der Bühne kein Flügel, sondern elektronische Gerätschaften aufgebaut werden, weiß man spätestens, dass es ganz anders kommen wird.
Der 31jährige Tristano wandelt zwischen den Welten der Klassik, Jazz und der elektronischen Musik und schafft immer wieder Verbindungen dazwischen. Als dann der tiefe Bassrhythmus wummernd einsetzt, kann man sich entweder auf den Rückzug begeben oder sich die Kälte des Tages noch aus den Gummistiefeln tanzen. Ein klassischer Pianist, der mit Elektromusik eine Kirche zu einem Elektro-Club verwandelt, yeah! Wer da seine Hemmungen und Vorurteile gegenüber dieser Art von Musik fallen lässt, hat hier auf jeden Fall noch etwas Spaß.
Ein Frühling kann eben auch ein Herbst sein und das Label “Jazz” passt anscheinend überall irgendwie drauf: “It Don’t Mean a Thing, If It Ain’t Got That Swing”.
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