Weiblicher Weitblick

Erstmalig: Hamburger Kunstverein mit neuer Direktorin am Start

Bernhard Cella „Ich will wissen wie ihr wohnt“: Im begehbaren Atelier.

Suzy Cream­cheese«, »Edgar Varè­se«, »Wil­lie the pimp« haben sich auf­ge­stellt, wip­pen wie im Wind von Zau­ber­hand auf­ge­zo­gen nach­ein­an­der auf der Büh­ne. Zu Musik, bun­tem Klang­klir­ren und Sprach­stü­cken tan­zen, dre­hen, wir­beln auch »Jesus just lea­ving Chi­ca­go«, »Lee Har­vey Oswald«, die »Mar­tin Kip­pen­ber­ger Toma­to« und der »John Cage Spoon«.

Wel­co­me Geoffrey Far­mer at the Ham­bur­ger Kunst­ver­ein: Jüngst ist die Schau »Let’s make the water turn black« gestar­tet. Con­nec­tions mit Cana­da wur­den aus­ge­baut, der docu­men­ta-Künst­ler in die Han­se­stadt ein­ge­la­den. Viel Bau­haus, ein Kom­plett-Hap­pe­ning, mit Musik – extra für Ham­burg komponiert.

Mit Zischen und Sprü­chen, Licht­spie­len in Blau, Pink und Gelb wird der Besu­cher im ers­ten Stock in Emp­fang genom­men. Und plötz­lich ist es völ­lig dun­kel. Dann kommt aus einem Muschel­rohr ein Gesangs­stück. Es wird wie­der hel­ler. Nach und nach umrun­det man die gro­ße Büh­ne, die den Groß­teil in der Mit­te des Rau­mes ein­nimmt. Und wan­dert vor­bei an Mas­ken, Wisch­mopps, bun­ten Glüh­bir­nen, Gips­ar­men, Pal­men, über­di­men­sio­nier­ten Toma­ten und noch vie­lem mehr. Ver­satz­stü­cke von Kol­le­gen, viel zu ent­de­cken, viel zu hören: Es dau­ert eine Wei­le, bis man alles gese­hen hat.

Zwei Künst­ler sind zur Aus­stel­lung ein­ge­la­den: Der eine gestal­tet in Rich­tung Dada und mit Frank Zap­pa und Stra­win­sky, der ande­re unter­sucht, was Arbeit heu­te aus­macht, was wichtig(er) gewor­den ist, wor­auf der Ein­zel­ne sich fokussiert.

Auch das Erd­ge­schoss ist aus­ge­baut: Hier will Bern­hard Cel­la wis­sen, wie man (= Künst­ler) wohnt. Über eine Holz­brü­cke geht es hin­ein: Der öster­rei­chi­sche Künst­ler baut ein tem­po­rä­res, begeh­ba­res Ate­lier auf, in dem sich der Besu­cher bewegt und Arbeits­fel­der und Künst­ler­zi­ta­te in Augen­schein neh­men kann. Zum Bei­spiel: »Heu­te spricht man in der Kunst nicht mehr von Werk, son­dern von Arbeit«. So betrach­tet, im Moment des Auf­ent­halts, ist der Außen­ste­hen­de mit­ten­drin, im Arbeits­raum, durch die Video­stills qua­si in direk­tem Dia­log mit den por­trai­tier­ten Künst­lern. Er wird somit Teil der Aus­stel­lung, was beim Durch­schrei­ten gar nicht so sehr auf­fällt, eigent­lich. Cel­la hin­ter­fragt die Neu­aus­rich­tung des Kunst­ver­eins, will die gegen­wär­ti­ge Rol­le genau­er beleuch­ten und agiert dabei wie ein Kura­tor mit den Künstlerkollegen.

Wer steckt dahin­ter? Bei­de Künst­ler wer­den enthu­si­as­tisch, gar fre­ne­tisch von Publi­kum und der »Neu­en«, Bet­ti­na Stein­brüg­ge, begrüßt: »Ever­y­bo­dy fell in love with you guys!«, so die Lei­te­rin des sich frisch geben­den Vereins.

Char­mant übri­gens, wie Samm­ler-Urge­stein und Ver­eins­vor­sit­zen­der Harald Falcken­berg die natür­lich Auf­ge­reg­te will­kom­men heißt: »43 ist sie, glau­be ich«.

Erst­mals eine weib­li­che Direk­to­rin für einen der größ­ten und ältes­ten Kunst­ver­ei­ne – gegrün­det 1817 zum Zweck der »mehr­tei­li­gen Mitt­hei­lung über bil­den­de Kunst«: Im Janu­ar hat sie die Nach­fol­ge von Flo­ri­an Wald­vo­gel ange­tre­ten, der das Haus in nicht so guter Stim­mung ver­ließ. Wald­vo­gel wie­der­um beerb­te Yil­maz Dzie­wi­or und hat­te vier Jah­re lang Ver­ant­wor­tung fürs Ver­eins-Pro­gramm. Übri­gens: Eini­ge Jahr­zehn­te zuvor hat­te Hil­de­brand Gur­litt den Direk­to­ren­pos­ten am Klos­ter­wall inne – näm­lich 1930. Doch Gur­litts moder­ne Kunst­auf­fas­sung war den Macht­ha­ben­den ein Dorn im Auge: Die Natio­nal­so­zia­lis­ten schlos­sen 1933 die elf­te Aus­stel­lung der Ham­bur­ger Sezes­si­on, der Vor­stand des Kunst­ver­eins wur­de aus­ge­wech­selt und Gur­litt ent­las­sen. Des­sen Sohn, Cor­ne­li­us Gur­litt, geriet 2013 wegen sei­ner gro­ßen Kunst­samm­lung in die Schlag­zei­len – der »Schwa­bin­ger Kunst­fund« war im letz­ten Jahr eine Sen­sa­ti­on. Der Rest ist Kunst-Geschichte.

So war viel Volk zur ers­ten Schau der neu­en Kunst­ver­eins-Direk­to­rin gekom­men – und nicht nur die Ham­bur­ger Kunst­sze­ne und das gesetz­te Bil­dungs­bür­ger­tum woll­ten wis­sen, was es jetzt Neu­es gibt, nein, es tum­mel­ten sich gera­de auch vie­le jun­ge Leu­te herr­lich leb­haft auf bei­den Etagen.

Das ist für Stein­brüg­ge das Span­nen­de an den Kunst­ver­ei­nen – die­se sind frei­er in der Gestal­tung als die Muse­en. Ihrer Mei­nung nach wer­den die Ver­ei­ne auch wie­der wich­ti­ger, bekom­men mehr Zuspruch, da sie über­ra­schen­der prä­sen­tie­ren kön­nen und nicht nur auf eta­blier­te Posi­tio­nen zurück­grei­fen (müs­sen). Auf die­se Wei­se wird es für den Besu­cher auch span­nen­der, die Kunst aus meh­re­ren Per­spek­ti­ven mit Gefühl und Intel­lekt betrach­ten zu kön­nen – also durch­aus an die Arbei­ten mit emo­tio­na­ler Intel­li­genz her­an­zu­ge­hen und so auch Hin­ter­grün­di­ges eher zu ent­de­cken. So will sich der Ver­ein mit fri­schen Füh­rungs­pro­gram­men, Fra­gen zu aktu­el­len (Lebens-)Umständen und Aktio­nen zum gemein­sa­men Erleb­nis öff­nen, als sozia­ler Ort, qua­si wie ein leben­di­ges »Face­book«. Die­ser weib­li­che Weit­blick wird dem Kunst­ver­ein gut tun.

Kurz­bio­gra­fie
Bet­ti­na Stein­brüg­ge war von 2001 bis 2007 künst­le­ri­sche Lei­te­rin der Lüne­bur­ger Hal­le für Kunst, Gast­ku­ra­to­rin an der Kunst­hal­le Mul­house und seit 2010 Seni­or Cura­tor am 21er-Haus der Öster­rei­chi­schen Gale­rie Bel­ve­de­re in Wien. 

Ein Schwer­punkt ihrer Arbeit liegt im Bereich Film und Video, so war sie von 2006 bis 2011 als freie Mit­ar­bei­te­rin für das »Kas­se­ler Doku­men­tar­film- und Video­fest« tätig und ist seit 2010 im Vor­schlags­gre­mi­um der »Berlinale/​Forum Expanded«. 

Außer­dem hat sie einen Lehr­auf­trag in Genf.

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