
Nils Wülker ist einer der erfolgreichsten Jazz-Trompeter der jüngeren Generation, seine Platten wurden mit einer Fülle von Preisen ausgezeichnet. Auf seinem 2015 erschienenen Album »Up« (amazon Partnerlink) arbeitet er mit verschiedenen Künstlern aus dem Pop-Business zusammen, darunter so unterschiedliche Musiker wie der deutsche Soulsänger Max Mutzke oder der in Hollywood erfolgreiche schottische Filmkomponist Craig Armstrong (»The Great Gatsby«). Das Album ist für den ECHO Jazz 2016 nominiert, der am 26. Mai auf Kampnagel verliehen wird, live hören kann man ihn einen Tag davor im Hamburger Mojo-Club. Wir trafen Nils Wülker in Hamburg und sprachen mit ihm über Genregrenzen und den neuen und alten Jazz.
HHF: Du hast lange in Hamburg gelebt – wie war dein letztes Konzert hier in der Stadt? Was für ein Publikum kommt in einen Club wie das neue Mojo, um deine Musik zu hören? Ein reines Jazz-Publikum?
Nils Wülker: Es ist eigentlich eine ziemlich bunt gemischte Truppe von Leuten. Solche, die viel Jazz hören und da vielleicht für sich andere Dinge in der Musik entdecken. Und andere, die sagen, ich war noch nie auf einem Jazzkonzert, ich wusste nicht, ob das Jazz ist oder kein Jazz, oder ich wusste nicht, dass das überhaupt Jazz ist. Am liebsten ist mir eigentlich immer, wenn sich die Leute unvoreingenommen Musik anhören.
HHF: Es gibt sehr viele unterschiedliche Auffassungen über Musikgenres, immer mehr Subgenres werden von Plattenindustrie und Musikjournalisten definiert. Du hast einmal Jazz als den »wahren Crossover« bezeichnet. Was ist denn »Jazz«? Was bedeutet der Begriff heute, wo wir so eine Fülle von Stildefinitionen haben?
Nils Wülker: Es gibt natürlich sehr unterschiedliche Auffassungen, was Jazz ist, und meine ist die einer gewissen Haltung des Musizierens. Für mich ist Jazz keine abgeschlossene Kunstform, die man jetzt schon irgendwie ins Museum stellen kann. Das kann man unter Umständen mit Strömungen des Jazz, man kann beispielsweise sagen: BeBop, das ist der Sound der 40er und 50er. Meine Wahrnehmung von Jazz ist eigentlich – und darauf spielt das Crossover-Zitat an –, dass es immer eine Musik war, die links und rechts geguckt hat und immer wie ein Schwamm alle möglichen anderen Strömungen aufgesogen hat.
Ob das jetzt Cool Jazz oder Miles (Davis) war, der sich harmonisch von Debussy hat inspirieren lassen, ob das dann wie in den 50ern kubanisch war oder in den 60ern Bossa Nova und Third Stream, oder danach JazzRock, oder Hendrix. Dieses Über-den-eigenen-Tellerrand-Gucken ist für mich ganz elementarer Bestandteil dessen, was Jazz ist. Deswegen tue ich mich selber schwer mit einer Haltung, die Jazz stärker abgrenzt. Aber das ist auch meine Sicht der Dinge, da gibt es kein Richtig und kein Falsch. Wynton Marsalis wird das sicher anders empfinden. Aber für mich ist das in der Geschichte des Jazz verankert, das Links- und Rechts-Gucken ist Bestandteil der Musik.
HHF: Ein bekannter Hamburger Jazzmusiker hat mir in einem Gespräch mal gesagt, Jazzmusiker seien wegen ihrer Universalität auch in anderen Musikformen sehr beliebt – »die können alles«. Ist das ein Widerspruch?
Nils Wülker: Das stimmt, aber das finde ich, ist gar kein Widerspruch. Für mich ist das mehr ein kompositorischer Blickwinkel. Das, was er wohl meint, ist: Was bring ich als Instrumenatalist mit? Es gibt wahnsinnig tolle Rock-/Pop-Musiker, die viel spielen können. Jemand kann berührende Musik machen und nicht besonders gut Gitarre spielen, so wie manche Singer/Songwriter, aber im Jazz kommt man, wenn man sein Instrument nicht beherrscht, schnell an die Grenzen der Ausdrucksmöglichkeiten. Und deswegen ist es tatsächlich so, dass Jazzmusiker gut an ihrem Instrument sind. Sie spielen ja auch eine Musikrichtung, die die Basis von vielem Anderen ist. Jazz hat sowohl Rock und Pop sowie Soul beeinflusst, und ich glaube, deswegen bringt man da viel mit.
Einen guten Song zu schreiben, hat man trotzdem nicht automatisch drauf, auch wenn man ein guter Jazzkomponist ist. Die Fähigkeit, in Reduktion viel zu sagen – kompositorisch und vom Überbau her –, kann man als Jazzmusiker nicht automatisch mitbedienen. Das ist eine Qualität für sich, sowohl in der Komposition als auch als Interpret. Nur weil jemand ein wahnsinnig guter und sehr virtuoser Jazzsänger ist, der alles mit seiner Stimme anfangen kann, heißt das noch nicht, dass er beispielsweise die »Hurt«-Version von Jonny Cash singen kann und man davon Gänsehaut bekommt. Und genauso kann es vorkommen, dass jemand, der die Fähigkeit hat, abstrakte Sachen zu komponieren, nicht zwingend eine einfache, aber tiefgründige Melodie schreiben kann. Das sind dann doch noch sehr verschiedene Dinge.
HHF: Viele haben den Jazz schon als tot bezeichnet. Er war nie ganz weg, oder doch? In den letzten Jahrzehnten hat sich vor allem die Popmusik immer wieder einmal geöffnet, einer der ersten war möglicherweise Sting, der mit dem Keyboarder Kenny Kirkland und dem Saxophonisten Branford Marsalis seine Solo-Karriere gestartet hat. Wenn ich mich recht erinnere, war das Publikum besonders bei den Live-Auftritten Mitte der 80er-Jahre regelrecht schockiert, wenn Kenny Kirkland zu seinen halbstündigen Soli angesetzt hat.
Nils Wülker: Echt? Es gibt ja das Livealbum »Bring on the Night«, das ist eine totale Sternstunde, sein Solo.
HHF: Vielleicht waren die vielen Police-Fans damals noch etwas überfordert mit dieser ausgreifenden Form. Wie hat sich der Weg des Jazz entwickelt, ist der Jazz reicher geworden durch diese Kooperationen oder kocht da jeder wieder seine eigene Suppe? Wie stark sind die Abgrenzungen zwischen den »Fusion«-Verfechtern und den Vertretern einer »reinen« Lehre?
Nils Wülker: Ich würde da gar nicht zwei Richtungen ausmachen wollen, sondern sagen, dass die Vielfalt mit jedem Jahr zusätzlicher Geschichte einfach wächst. Eben weil diese Musikrichtung kontinuierlich links und rechts schaut, nimmt auch die Anzahl der Einflüsse zu, das führt zu mehr Vielfalt. Für mich ist das keine Diskrepanz, dass unter dem Oberbegriff »Jazz« so viele unterschiedliche Sachen segeln. So wie man jede Menge Epochen unter »Klassik« sammelt, ist es ähnlich mit dem Jazz – es ist inzwischen ein Überbegriff für sehr, sehr unterschiedliche Musik. Das Problem in der Kommunikation von »Jazz« ist, dass Leute eine diffuse Vorstellung davon haben, was Jazz eigentlich ist und denken, das sei eine homogene Sache. Da gibt es doch die unterschiedlichsten Assoziationen, ob diese Sache dann Dixieland ist, oder andere denken, es sei Free-Jazz, und wieder anderen denken, es sei BeBop – ohne es vielleicht selber so benennen zu können. Die meisten Leute sind sich nicht bewusst, dass es diese große Vielfalt gibt. Das ist dann vor allem eine Herausforderung in der Kommunikation über den Jazz.
HHF: Betrachtet man die erfolgreichen Projekte der letzten Jahre, so sind das eher Stilformen, die sich »weicher« präsentieren und der Popmusik geöffnet haben. Der leichtere Ton herrscht vor, man denke an Gregory Porter oder die Skandinavier aus der ACT-Schiene – wir wollen da auch deinen sehr geschmeidigen Sound nicht ganz ausnehmen. Es gab andere Zeiten, die zupackendere Stile pflegten, der schon angesprochene Bebop oder der brodelnde und wilde Free- Jazz der 60er und 70er. Warum sind die smoothen Sounds gerade heute so populär?
Nils Wülker: Das ist gar kein jazzspezifischen Ding, sondern ich glaube, dass es Hörgewohnheiten sind. Ich setz mich ja auch nicht am Reißbrett hin, sondern ich habe auch eine sehr intuitiven Zugang zum Musik-Machen. Meine Empfindung war immer schon so, dass ich sehr melodisch motiviert war. Im Pop/Rock ist es wahrscheinlich auch ähnlich. In Zeiten von »Bitches Brew« (Miles Davis, Anm. d. Red.) klang auch andere Musik anders. Es gab ja auch sonnig-verspielte Sachen wie etwa Supertramp zu der Zeit, lauter kleine Oden. Arvo Pärt klingt halt auch anders als Pierre Boulez. Ich glaube, wahrscheinlich ist es eine ganzheitliche Wahrnehmung der Zeit, es gibt ja diesen Modebegriff wie »Suche nach Entschleunigung«. Das ist eine Geschichte, die man auch ganz musikalisch sehen kann. Im Pop geht das ja auch eher über »Sound«, Klangverfremdungen, Elektronisches, »Kante« passiert dann nicht über rohe Energie, punkmässig, sondern auf einer anderen Ebene.
HHF: Dann gibt es eine Zeitwahrnehmung, die so etwas braucht, zurückgenommen aus der alltäglichen Belastung herauszukommen? Ist das eine Art Weltflucht?
Nils Wülker: Ein Interpretationsversuch: Ich erinnere mich gerade an ein Gespräch mit Peter Vetesse (»Jethro Tull«), mit dem ich für das Album »Up« zusammengearbeitet, der meinte: »Bei uns war’s so einfach – alles was wir gemacht haben, war neu«. Es war damals immer alles geschichtslos, und es war sehr leicht, aufzubrechen.
HHF: Und das ist heute angesichts der Vielfalt der Eindrücke anders?
Nils Wülker: Es ist schon schwieriger. Das heisst nicht, dass nicht vollständig individuelle und neue Dinge passieren können, aber es ist eine andere Zusammensetzung. Es hat nicht mehr die offensichtliche Aufbruchskraft, wie der Mensch, der als erster seine Gitarre verzerrt oder der erste Synthesizer eingestöpselt wird – so wie bei Jethro Tull, wo Peter damals auf einmal die Synthies reingebracht hat. Oder HipHop, als der kam, das war etwas, das ganz neu war, oder wahrscheinlich auch Techno. Ich hab mal ein Interview gelesen über das Percussion-Instrument »Hang«, das ist so ein bisschen klangschalenmässig, aber sehr tonal. Der, der das Instrunment spielte, meinte, das Reizvollste für ihn sei, dass das Instrument keine Geschichte hat – also das es keine Vorbilder gibt und nichts, woran man gemessen wird. Ich glaube, dass es zwischen den 60ern und 80ern einen Komplettaufbruch gab, der heute wesentlich schwerer fallen würde, so dass man sich heute mehr seine externen Einflüsse sucht.
HHF: Warten wir auf einen neuen Aufbruch in der Musik?
Nils Wülker: Peter meinte: »Ich beneide euch nicht darum, wie es ist.« Ich empfinde das nicht als Einschränkung. Natürlich ist es ganz erftrischend, wenn irgendwas kommt, was man sich jetzt nicht vorstellen kann. Aber das, was vermeintlich heute im Jazz »Avantgarde« genannt wird, ist ja auch keine »Avantgarde« im Wortsinne, wenn man sich überlegt dass HardBop auch nur 10 Jahre vor komplett freier Improvisation stattgefunden hat. Das ist aber auch schon wieder 50 Jahre her, dann ist für mich frei zu spielen auch nicht unbedingt avantgardistisch.
HHF: Es gibt Bandprojekte im Jazz, die die Traditionen wieder aufnehmen, sie spielen Standards, also das »Great American Songbook« und brechen gleichzeitig mit den Traditionen. Ein Beispiel wäre das Flechsenhar-Trio aus Berlin, das so vielleicht aus der Traditionsfalle ausbrechen möchte, die andere sogenannte »Retro«-Konzepte eventuell haben …
Nils Wülker: Ja, die kenne ich auch. Ich empfinde das gar nicht so sehr als Falle, wenn man authentisch seine eigene Strömung darin findet. Das ist vielleicht auch ein gutes Beispiel, so wie die halt zwei Dinge verbinden, das American Songbook und die 40er Jahre mit was Freiem. Das sind auch zwei Dinge, die es schon gab, und die finden ihre eigene Verbindung. Man ist auf eine Art sehr frei darin, sich seine Einflüsse zu suchen – nicht so wie früher, wenn es hieß, du musst es frei spielen, oder du durftest nicht frei spielen.
HHF: Könnte man sagen, das Dogmatische ist weg?
Nils Wülker: Genau, das ist komplett weg. Man kann auch musikalisch nicht mehr schocken. Auf textlicher Ebene geht das sicher noch, aber musikalisch, rein mit klanglicher Härte, ist alles ausgereizt. Man wird jetzt auch nicht wilder werden als Peter Brötzmann. Es wurde schon sehr viel bedient, und jetzt ist es ein freies Feld, auf dem man sich undogmatisch bewegen kann.
HHF: Auf dem aktuellen Album spielst du mit Musikern, die teilweise aus dem Pop-Genre kommen, manche davon sind relativ prominent, wie Xavier Naidoo oder die mehrfache Grammy-Gewinnerin Jill Scott – hatten die Lust auf Jazz?
Nils Wülker: Das hat schon ein wenig Neugierde von deren Seite erfordert, weil das nicht deren Feld ist. Das waren alles Leute, die gerne etwas ausprobieren wollten. Und mit allen war es sehr einfach. Mit Max Mutzke zum Beispiel war das auch so. Er war der einzige, den ich vorher schon kannte, wir haben schon einmal zusammen gespielt. Wir sind musikalisch sehr seelenverwandt.
HHF: Wie waren die Auswahlkriterien für dich, warum mit genau diesen Leuten?
Nils Wülker: Ich hab ja jahrelang die Dinge etwas eigenbrötlerisch betrieben, und hatte bei dem Album mal Lust, für mich den Prozess zu öffnen. Und dann war es einfach wirklich so, dass ich Leute, die ich als Sänger schätze, gesucht habe, und dann einfach ins Blaue gefragt habe: »Hast du Lust, das mal auszuprobieren«?« Und dann wollte ich auch gar nicht im Vorfeld die Situation überhöhen, ich wollte für mich ergebnisoffen in jede Begegnung gehen, und sehen, wo es hin geht. Es ist ja nur Musik, und das Schlimmste, was passieren kann, ist, das man sich am Ende eines Tage in die Augen schaut und sagt »War nix.«
HHF: Was hat dich an Naidoo gereizt? Die Verspieltheit?
Nils Wülker: Die Stimme. Das Klangfarbliche.
HHF: Naidoo ist ja auch ein Sänger, der technische Virtuosität und Modulation sehr in den Vordergrund stellen kann, was ja durchaus etwas Artistisches hat. Wie wichtig ist die Technik für dich? Wie wichtig ist das Instrument?
Nils Wülker: Das Instrument an sich ist nicht so entscheidend. Klar, es muss funktionieren, es muss zu mir passen, aber generell ist es so, dass das Instrument bei einem Blechbläser eine etwas geringere Rolle spielt. Jedes Instrument besteht aus einem Klang-Generator und einem Resonator. Die Generatorfunktion übernimmt bei den meisten Instrumenten ein Bauteil des Instruments, und bei Blechbläsern sind’s halt die Lippen. Das Instrument ist nur Resonator, das heißt, es ist ohnehin mehr im Menschen verankert. Sound, so würde ich sagen, steht für mich an erster Stelle. Das war das Erste was mich fasziniert hat, als ich das erste Mal Miles Davis gehört habe. Ich war komplett unbeleckt, was Jazz betraf, da hat mir jemand die »Kind of Blue« vorgespielt. Die Intensität, die in einem Ton liegen kann, das war es.
HHF: Wenn man Miles Davis live erlebt hat, hat man immer gesehen, wie er seinen Sound auch räumlich und körperlich gesucht hat. Das Abwenden vom Publikum, die gebückte Haltung, um einen Ton an einer spezifischen Stelle zu finden – wie entscheidend ist die Körperlichkeit des Spiels für dich?
Nils Wülker: Der Motor ist die Atmung, deswegen kommt viel aus dem Bauch, Zwerchfellatmung, Brustraum, aber letztendlich ist es der ganze Körper, der mitschwingt, resoniert. Trompete zu spielen, ist auch dadurch, dass man so viel atmet, ein sehr körperliches Gefühl. Aber trotzdem, im Idealfall, wenn alles läuft, fühlt sich das Instrument wie eine Erweiterung des Körpers an. Das ist dann nicht mehr so, als bediene ich ein Gerät, sondern ist es dann so, dass man vergißt, was man in der Hand hat. Für das Jazzartige, das Improvisieren, das Reagieren, braucht man auch dieses Unmittelbare. Die Trompete ist dann manchmal ein etwas undankbares Instrument, man muss viel für es tun. Man bekommt auch immer wieder vom Instrument vorgeführt, wo die Unzulänglichkeiten sind – dann »bedient« man das Instrument wieder mehr, aber im Idealfall ist es so, dass man auf der Bühne steht und das das nur noch ein körperlicher Akt ist.
HHF: Die Trompete war auch immer ein Showinstrument, man denke an die grossen Namen wie Harry James, Satchmo, Miles Davis, auch der Kollege Brönner stellt das Entertainment sehr in den Vordergrund. Du stehst für einen zurückgenommenen Stil, wie erklärt sich das?

Nils Wülker: Das ist eine Typfrage. Miles war als Person sehr exaltiert, musikalisch war das ja eher nicht so.
HHF: Und Dizzy Gillespie?
Nils Wülker: Anders. Dizzy war auch so ein Ausbund an Lebensfreude. Für mich ist das zum Beispiel immer so: Wenn ich Dizzy höre, muss ich grinsen. Das klingt nach totaler Freude. Es gibt Momente, wo ich sehr virtuos spiele und sehr energetisch, das ist aber vor allem von der Musik vorgegeben.
Solche Momente gibt es live, vor einer Woche hab ich mit EST Symphony und Iiro Rantala gespielt, da gibt es Situationen, wo man auch mal richtig »abdrückt«. Das ist für mich kontextabhängig, es muss sich aus der Musik heraus ergeben. Das Strahlende an der Trompete, das war für mich als Kind eindrucksvoll.
Was das Instrument für mich ausmacht, ist, dass man klanglich eine extrem große Bandbreite hat. Du kannst halt dieses strahlende Heroische und auch das Virtuose machen, das Losrotzen, aber man kann auch sehr zerbrechlich, delikat und weich klingen. Das ist das, was für mich Trompete ausmacht.
HHF: Vorbilder – wenn du aus drei großen Trompetern auswählen dürftest: Dizzy Gillespie, Miles Davis oder Chet Baker?
Nils Wülker: Chet wird eher häufiger bei mir assoziiert, da ist ja auch nix verkehrt dran. Ich hab ihn nie viel gehört, ich hab mit Abstand am meisten Miles gehört, nicht so viel die alten Meister. Was mich so richtig angesprochen hat, ging am ehesten bei Dizzy und Miles los. Ich hab dann viel Freddie Hubbard und Woody Shaw und die Typen gehört, einfach wahnsinng viel geübt und Soli rausgehört. Ich dachte auch immer, ich will so Freddie-Hubbard-mäßig »abdrücken«, und auch noch während des Studiums sehr viel die Richtung probiert.
Aber ich habe gemerkt, wenn ich nicht darüber nachdenke, was ich spielen möchte, sondern die Dinge passieren lasse, dann kommt eben nicht Freddie dabei rum, sondern das Lyrische. Und wenn es virtuos wird, live in der Zusammenarbeit mit der Band und über große Bögen hinweg, dann kommt es vor, dass es energetisch wird.
HHF: Inwieweit lässt du dich von anderen Bereichen der Kultur beeinflussen? Eines der Stücke auf der Platte heisst »Kelvingrove«, ein berühmtes Museum in Glasgow, dein Partner bei diesem Song war der erfolgreiche Filmkomponist Craig Armstrong, der den Soundtrack für Baz Luhrmanns Romeo und Julia komponiert hat. Das letzte Album des belgischen Musikers Ozark Henry, mit dem du auch zusammen gearbeitet hast, heisst »Paramount«, auch so eine Filmassoziation. In Interviews mit dir taucht der Begriff »Kopfkino« auf, also eine Form der bildlichen Imagination. Man könnte meinen, dass es eine besondere Affinität zu diesem Thema bei dir gibt?
Nils Wülker: Ja. Ich mag Filme sehr, ich bin selber jemand, der sehr assoziativ reagiert, auch als Hörer. Mir ist Atmosphäre sehr wichtig und ich glaube, das generiert die Musik, die für viele Leute bildlich ist. Es ist nicht so, dass ich mir das vornehme, sondern das entsteht durch die Art, wie ich ticke, und dass ich aus Stimmungen heraus Musik mache. Dadurch wirkt es bildlich .
Was man viel mit Film assoziiert, ist so etwas wie »Stimmungsdramaturgie«. Das ist etwas, was ich an Musik sehr schätze, sowohl als Musizierender, als auch als Hörer. Das muss ich mir aber nicht vornehmen, es ist einfach meine Art des Musikmachens. Es ist tatsächlich so, dass ich das sehr schön finde, wenn Leute assoziativ auf Musik reagieren. So sehr ich auch »Songs« liebe, ist es eine hohe Qualität von instrumentaler Musik, dass sie so viel Interpretations- und Assoziationsraum lässt, weil man nicht über die textliche Ebene eine Richtung vorgibt.
HHF: Wie wichtig sind denn Texte für dich? Du hast dich einmal als »Singer/Songwriter« bezeichnet.
Nils Wülker: Für mich ist das Musikschreiben verwoben mit dem Musikspielen. So wie ein Singer/Songwriter für sich die Stücke schreibt, habe auch ich das Gefühl, dass die Art, wie ich spiele, die Art, wie ich schreibe, beeinflusst, und andersherum. Wohingegen sich viele Jazzmusiker in erster Linie als Interpret gesehen haben, was nicht heißt, dass sie nicht schreiben konnten. Aber es ist die Basis, um darauf als Spieler glänzen zu können, für mich hat beides den gleichen Stellenwert und ist eng miteinander verwoben. Insofern fühle ich mich der Denkweise eines Singer/Songwriter-Konzepts nah. Musikschreiben ist für mich ein direkter, intuitiver Prozeß, beim Texten bin ich darauf angewiesen, das mit jemandem zusammen zu machen.
HHF: Eines der Stücke auf dem Album, dass du zusammen mit Ozark Henry spielst, heisst »Kafka on the Shore«, nach einem Roman von Haruki Murakami. Da klingt schon eine gewichtige Assoziationskette an, von Descartes wird da gesprochen und von Spinoza. Wie sind da die Anteile verteilt zwischen Ozark Henry und dir bei so einer Komposition?
Nils Wülker: Das war textlich seine Idee. Es heißt: Nur weil du dich mit einem Stoff befasst hast, macht dich das nicht zum Philosophen, richtet sich also ein bisschen humorig gegen »Dünnbrettbohrer«. Mit dem Gedanken kann ich was anfangen. Es war so, dass wir an dem Text zusammen saßen, und er kam dann am nächsten Tag zurück und sagte, ich hatte gestern den totalen Fluß, was hälst du davon? Ich konnte mich damit anfreunden. Und dann ist es für mich auch gut, es ist Teil des ergebnisoffenen Reinfindens. Wenn man was zusammen macht, muss Raum für zwei Individuen bleiben.
HHF: »Play that Fluegelhorn« heißt es dann weiter in diesem Song – in diesem Sinne: Wir danken für das Gespräch!
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