Vor einem Prospekt mit Planeten, Strudeln und einer Art göttlichem Auge sitzt Hinrichs in langer Unterwäsche auf dem Boden und malt oder notiert auf selbigem. Er hat sich Verstärkung geholt, einen jungen Kerl mit Sitar, dem man einen Bart angeklebt und ein prophetenhaft anmutendes Gewand angezogen hat. Während das Publikum seine Plätze einnimmt, ruft es in unverkennbarer Hinrich-Manier vom Band “Hallo? Kommt rein! Hallo!!! Kommt rein!”.
Man merkt gleich, hier geht es um die Suche nach Transzendenz, diesen verdammten und viel zitierten Sinn des Lebens. Spätestens, wenn alle sitzen und Hinrichs aufsteht, einen riesenhaften Turban aufsetzt und man erkennt, dass es sich bei der langen Unterwäsche vielleicht doch eher um eine Art Yogagewand handelt. Mystischer Nebel steigt auf, und sein erster Satz ist “Ich habe eine Seele, ja.” Der Nebel kriecht hinunter in die ersten Reihen, und Hinrichs bekommt seinen ersten Lacher bei “Ich stehe hier um 20.38 Uhr auf der Bühne des Thalia Theaters (!). Ich bin auf mich gestoßen. Aber ich habe mich doch gar nicht gesucht.”
Der Abend lebt von den Brüchen, die Hinrichs entweder selbst setzt oder die Musik. In diesem Fall “Connected” von STEREO MCs; passt textlich perfekt und lässt die Kinder der 90er-Jahre schmunzeln. Hinrichs nutzt die Zeit, Blüten aus einer Klangschale am vorderen Bühnenrand ins Publikum zu werfen. Auf Bruch folgt Bruch. Helles Licht im Saal, auch im Zuschauerraum. “Guten Abend. Ich bin Karin Beier. Ich habe einen Spruch von Rumi mitgebracht.” Das alles klingt ein bisschen verrückt. Und das ist es auch.
Fest steht, die beiden Macher des Abends Fabian Hinrichs und Jürgen Lehmann haben ihre Hausaufgaben gemacht. Sie haben sich durch eine Menge Literatur zum Thema gelesen. An den Bühnenrändern vor den Logen dürfen die gedanklichen Paten als Pappfiguren stehen – von Hildegard von Bingen über Morrissey, den ehemaligen Leadsänger der 80er-Jahre-Band “The Smiths”, bis hin zu Gustaf Gründgens als Mephisto. Den spricht er später in seiner ganz persönlichen Schauspielhaus-Loge auch an, nicht ohne auf seine viel diskutierte Verbindung zum Regime des Dritten Reiches hinzuweisen.
“Das strenge Herz, es füllt sich mild und weich”, wird Faust zitiert und dann: “DAS waren noch Texte! DAS waren noch Stücke! DAS war noch Theater!”. Diese Form von Selbstironie ist es, die Hinrichs so rasend sympathisch macht. Einer, der bei sämtlichen Dichtern und Denkern klaut, das Ganze geschickt verquirlt, vor einem Prospekt mit Gottes- auge deklamiert und Faxen macht – und sich gern mal selbst demontiert: Das ist so schräg, dass man es irgendwie mögen muss.
Gerade weil man bei der Dichte an Information manchmal nur zum Teil versteht und sich kopfschüttelnd fragt, aus welchem Werk er diesen Gedanken gefischt haben mag, trifft das einen Nerv unserer Zeit: nämlich den, sich aus sämtlichen Kulturen das zu picken, das uns bei unserer ganz persönlichen Sinnsuche behilflich ist.
“Innenraum. Innen ist Raum. Das, was uns verlassen hat. Das Geheimnis hinter den Dingen.” spricht Hinrichs mit mystischem Hall durchs Mikrofon. “Es gibt eine totale Innenraumentleerung.” Und dann steht er auf der Bühnenmitte, reckt die Arme in das transzendente Licht von oben und schreit sehnsuchtsvoll “Komm!” und “Ich schaue ins Licht deiner Gnade”.
Doch den Gefallen tut man ihm nicht, das Licht geht aus, Hinrichs hüllt sich in ein Bodentuch und stellt resigniert fest: “Ich hätte auch gerne jemanden, der in mir ein Zelt aufschlägt und in mir wohnt und mich nicht alleine lässt.” Aber woher kommt er, der Sinn? Aus der Philosophie? Der Dichtung? Dem Glauben? Wohl nicht über die Ratio, denn Hinrichs kapituliert. “Wir haben uns tot gedacht.” Ab jetzt wird geglaubt.
“Ich bin ich. Ich – du. Ich bin nicht du. Ich bin ich, und das ist böse. Und jetzt alle!” Das Publikum sitzt konsterniert, und keiner macht mit. Hinrichs tut ein bisschen beleidigt: “Ihr habt nicht mitgemacht! Wir sind keine Gemeinde. Wir haben keine Kirche mehr. Das weiß ich, weil ihr nicht mitgemacht habt.” Aus dem Rang brüllt einer “Doch! Ich!”, aber das passt nicht ins Konzept. Denn Hinrichs will einen Chor gründen. Nicht irgendeinen, sondern einen “Chor der Pantheisten”. Orgelklänge. “Lasst uns heute Abend einen unsichtbaren Orden von Aristokraten gründen!” Gelächter, Kopfschütteln, totales Absurdistan. Hinrichs muss selbst ein bisschen lachen. “Wüste, Kloster, Trance, LSD, die Gärten des Epikur, ist doch egal, es ist alles besser als das da.”
Am Ende bleibt der Sitarspieler am vorderen Bühnenrand. Er wird den Propheten Hinrichs im hautengen Körperanzug bei seiner Predigt begleiten. “Erhebt euch! Jetzt seid EINMAL eine Gemeinde.” Die Rezensentin lacht. Und schreibt. “Stehst Du jetzt bitte auf!” ruft Hinrichs ein bisschen unwillig. Na gut. Dann werden wir eben eine Gemeinde heute Abend. Alle grinsen. Einige schütteln den Kopf. Der Abend ist zu Ende. Die Leute aus der ersten Reihe werfen die Blumen aus der Klangschale zurück auf die Bühne. Wie macht der das bloß? Man möchte es zu gerne wissen. Beim Barte des Propheten!
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