Welche Rolle spielt das Individuum in der Gesellschaft? Wie kontrolliert die Masse den Einzelnen? Wie unterwirft sich das Subjekt der Gruppe? Diese Fragen beschäftigen Philosophen, Literaten und Kunstschaffende bis heute. Choreograph Rachid Ouramdane stellt in „Tenir le temps“ genau diese gesellschaftlichen Fragen, die heute aktueller scheinen denn je. Ouramdane inszeniert in seinem dreiteiligen Stück das Kräfteverhältnis zwischen Individuum und Masse, zwischen der Sehnsucht nach Einzigartigkeit auf der einen und nach Geborgenheit sowie Akzeptanz auf der anderen Seite. Dem Tänzer, Choreografen und Leiter des Centre Chorégraphique National de Grenoble gelingt es, die Machverhältnisse in unserer Gesellschaft sowie den Untergang des Einzelnen auf die Bühne zu bringen.
Wir kennen es alle: das Gefühl mitziehen zu wollen oder gar zu müssen, um sichtbar zu bleiben, um Akzeptanz zu finden – seien es Modeströmungen, die neueste Technik, Sport- oder Ernährungstrends. Wir eifern dem nach, was aktuell angesagt ist, was alle haben oder machen, um nicht als Außenseiter dazustehen. Die Gesellschaft, die anderen machen uns zu dem, was wir sind. Das Individuum hat in unserem Gesellschaftssystem wenig Platz.
Auf einer sterilen weißen Bühne bewegt sich ein Tänzer zu einem Stakkato, zunächst langsam, mechanisch und instinktiv, bis die Klavierklänge seinen Körper durchdringen und ihn seine Bewegungen immer mehr durchzucken. Es gesellen sich 14 weitere Tänzerinnen und Tänzer zu ihm auf die Bühne, nehmen ihn mit in einen Sog von ineinanderfließenden harmonischen Bewegungen. Einer Kettenreaktion gleich laufen ihre Körper zusammen. Wo einer fließend zu Boden sinkt, sinken die anderen mit, heben sich gegenseitig auf, ziehen sich an und gleiten kontinuierlich als Kette weiter, stetig wiederholend wie das Ostinato des Komponisten Jean-Baptiste Julien, dessen Klänge die Körper der Tänzer ergreifen. Es ist die pure Harmonie der Masse. Ein Ausbruch ist schier unmöglich.
Dem Solisten im ersten Teil folgt ein Duett. Doch auch aus diesem Paartanz entwickelt sich durch den Rest der Gruppe eine erneute Kette von ineinander schmelzenden Figuren. Mal brechen die Glieder aus, laufen wieder mit dem Rest zusammen, erzeugen immer mehr Energie und neue Bewegungsströme. Sie stoßen sich ab, finden aber immer wieder zusammen. Mal ist es ein Duett, umschlungen, vereint und in sich gekehrt, harmonische Zweisamkeit. Mal ist es wieder ein Solist, der ausbricht, sich gegen die Masse auflehnt. Und dann ist da noch der Zweikampf. Zwei Körper messen ihre Kräfte gegeneinander. Wer ist der Stärkste? Wer der Beste? Doch sie alle sind im System gefangen. Einzelgänger werden wieder in den Sog der Masse gerissen, ihre individuelle Performance wird Teil einer gemeinsamen Darbietung.
Es ist beinahe erschreckend, sich selbst auf dieser sterilen weißen Bühne wiederzufinden. Dieses Streben nach Harmonie und Akzeptanz, das uns allen gemein ist, beim einen mehr, beim anderen weniger. Diese Sehnsucht nach Wärme und Geborgenheit, von der wir glauben, sie nur in einem anderen zu finden, nie in uns selbst. Auf der anderen Seite finden wir uns in einer Gesellschaft wieder, die alles andere ist als harmonisch. Eine Ellenbogengesellschaft, in der sich der Einzelne durch die Masse kämpft. Und dann ist da noch die Sache mit der Individualität. Uns wurden noch nie so viele Möglichkeiten geboten, einzigartig zu erscheinen. Persönliche Statements schmücken unsere Kleidung, wir färben unsere Haare bunt, neigen zu Extremen, um von der Masse abzuheben, um aufzufallen, um nicht unterzugehen.
Die Kettenreaktionen und Schneeballeffekte in Ouramdanes „Tenir le temps“ sind Synonyme unserer Gesellschaft, perfekt inszeniert in einem intensiven Tanzstück. Es greift eine politische und gesellschaftliche Frage auf, die uns alle beschäftigt, die uns tagtäglich durchdringt. Die Antwort auf die Frage nach der Rolle des Individuums liegt auf der Bühne: das Individuum in der Krise, gefangen in einer gesellschaftlichen Spirale.
Hinterlasse jetzt einen Kommentar