Das Stück ist blanker Humbug. Lorenzo da Pontes von Wolfgang Amadeus Mozart vertonte Dramma giocosa “Così fan tutte” widersetzt sich jeglicher Logik, selbst mit der Anwesenheit des sogenannten Zeitgeschmacks ändert sich daran nichts. Zwei Paare der guten Gesellschaft, ein Zeremonienmeister, eine Wette über die Treue der beiden Damen und ein ziemlich dämliches Verkleidungsspiel mit dem vorhersehbaren Happy Ending; nach Verwirrung, Herzeleid und Auflösung verlangt es bei Aufführungen dieses Werkes immer nach der Sinnsuche.
Lange hat man sich auf die Musik konzentriert und den Text “nach der italienischen Buffomanier” als wahrhaftig mitlaufen lassen, modernere Interpretationen suchen freilich nach den “Brüchen” des Stoffes und neigen zur Umdeutung. Dabei wird gerade in der Absurdität der Handlung eine entscheidende Facette dieses Textes deutlich, die komplette Künstlichkeit des Aufbaus und der dramaturgischen Struktur. Solche Gedankenspiele und Theoreme waren in einer Zeit, die dem Verstand huldigte, eine beliebte Form des ausgehenden 18. Jahrhunderts, man findet sie beim Franzosen Marivaux ebenso wie beim Italiener da Ponte. Zugleich aber spinnt dieser Operntext den Gedanken jedoch noch weiter, entfernt sich von seinem theoretischen Überbau und der Kategorie “Experiment” – er verweist unnachgiebig und deutlich auf die Pose, auf die Konvention, auf die Außerweltlichkeit seiner Erzählung. Nichts ist ihm ferner als die Verklärung eines romantischen Gefühls, noch die der moralischen Überhöhung, die zum “Happy Ending” führen soll, die ihm allzu oft angedichtet wurde.
Sandra Leupolds Lübecker Inszenierung hat sich für eine behutsame Dekonstruktion der Spielparameter entschieden. Nicht die Herausstellung des theatralischen Moments steht zunächst im Vordergrund, die Synthetik des Werkes entfaltet sich erst allmählich und im Detail. Die Bühne ist ein leerer Raum, bis hin zur Brandmauer, rechts wie links von Schweinwerferbatterien gesäumt, die immer wieder einmal helles Licht in die Szene werfen. Im englischen Sprachraum wird der Begriff “Enlightenment” für die Epoche der Aufklärung verwandt. Erst spät wird klar, dass es sich bei diesem schwarzen Bühnenkasten um eine Konstruktion handelt, die vermeintliche Brandmauer ist ein großer, bemalter Rückenprospekt, ein gekonntes Trompe-l’œil der am Lübecker Haus ohnehin überdurchschnittlichen Bühnenmaler (Bühne: Stefan Heinrichs). Das Personal ist historisch gewandet, die Herren in weißer Uniform – denn man vergesse nicht, dass Mozart Österreicher war – die Damen in der Parure, der “kleinen” Hofkleidung des Rokoko, mit dem seitlich ausgestellten Reifrock. Seltsam unförmig wirken damit die eigentlich jugendlichen Geschwister Fiordiligi und Dorabella, geharnischt in Korsett und Übergewand, beinahe matronenhaft. Im weiteren Verlauf des Abends wird sich zeigen, warum das so sein muss.
So gar nicht matronenhaft ist der musikalische Ansatz. Schon in der Ouvertüre zeichnet sich ab, mit welchen Effekten Mozart handelt, der Dirigent Felix Krieger lässt sich darauf ein. Wo “presto” draufsteht, nämlich in der Partitur, wird auch “presto” genommen, und so gar nicht verschludert kommt das Lübecker Orchester daher. Sauber und nuancenreich, mit schönen Bläsern und präzisen Streichern, nichts wird verhaspelt oder unter den Tisch gekehrt, so biegsam federnd hat man diesen Klangkörper trotz all seiner Erfolge länger nicht gehört.
Das Tempo kehrt sich auf Bühne bemerkenswert um. Teilweise, müsste man sagen, denn all das, was geschieht, findet auch in der gebotenen Dynamik statt. Jedoch jenes, was nicht geschieht, die Auf- und Abtritte sind komplett aus der wahrgenommenen Zeit gefallen. In größtmöglicher Verlangsamung finden sie statt, immer am Rand der Bühne, das betrifft auch und vor allem den Chor, dessen Erscheinen mitunter ganze Szenen dauert, bis seine Mitglieder an ihren genau festgeschriebenen Positionen sind.
Einen starren Block, mehrreihig, bilden sie im hinteren rechten Bühnenraum, jeder Sänger tritt, sobald er sich aus seiner schleichenden Randposition gelöst hat, in seltsamer Verhaltung an seinen Platz, es ist die Geste des peinlich zu spät gekommenen, trippelnd, frontal, kontrollierend. Kaum hat sich die Formation gebildet, entweichen die ersten wieder, auf die selbe Weise, erneut frontal, vorsichtig rückwärts gehend, um sich wieder dem schleichenden Rundgang am Rande der Bühne anzuschließen. Und so erscheint der Spielraum auf der zentralen, in dem sich die Paare und ihr Anleiter tummeln, als eine Art verbotener Raum, den zu betreten es besonderer Rituale bedarf. Das betrifft nicht nur den Chor, sondern auch die auftretenden Solisten, auch sie fallen mitunter förmlich hinein in den Ort, an dem sie agieren.
Der Nucleus der Inszenierung bildet sich demzufolge und geradezu bezeichnenderweise am deutlichsten in ihrer geplanten Abwesenheit ab: Das Ende der Pause wurde eingeläutet, das Publikum murmelt sich zu seinen Plätzen, das Orchester stimmt seine Instrumente, die Aufmerksamkeit ist beim Programmheft oder beim Gespräch mit den Nachbarn, auch das Saallicht ist noch eingeschaltet. Doch das Stück hat bereits begonnen. Wieder am äußersten Rand der Bühne erscheint es, das Figurenquartett dieses Versuchaufbaus, erneut schleichend, rotierend und sich langsam und sich vorsichtig voran tastend. Weder Bühne noch Zuschauer sind bereit für die Fortsetzung des Spiels, der Raum dafür darf anscheinend noch nicht betreten werden.
So deutlich wie hier wird die Trennung zwischen Innen- und Außenwelt nie an diesem Abend, es sind nicht nur räumliche, sondern auch zeitliche Trennungen, die die synthetische Konstruktion der Handlung in den Vordergrund stellen – außen das verlangsamte Jetzt, innen das schnelle Spiel. Verkehrte man dieses Konstrukt, gliche man die Langsamkeit der Randständigen an die Realzeit an, welche übermenschliche Geschwindigkeit müsste dann das Wechselspiel der Paare erreichen? Kaum vorstellbar.
Obwohl in da Pontes Libretto die Männer für die Impulse stehen und die Handlung bestimmen wollen, stehen die Frauen im Mittelpunkt. Der starke Johan Hyunbong Choi (Guglielmo), der schön singende Daniel Jenz (Ferrando) und der eloquent aufspielende Steffen Kulbach (Don Alfonso) machen ihre Sache natürlich exzellent. Aber es hat das Lübecker Haus, wie so oft schon, Glück mit seinen außergewöhnlich starken, jungen Sängerinnen. Denn mit dem südafrikanischen Gast Erica Eloff als Fiordiligi, der in all dem angelegten Chargenspiel rührenden Andrea Stadel als Despina und dem immer wieder aufs Neue überraschenden Lübecker Eigengewächs Wioletta Hebrowska (Dorabella) muss sich dieser Abend vor nichts und niemandem fürchten. Das liegt nicht so sehr an der Vergleichbarkeit mit etwaigen ikonischen Konkurrentinnen in der Musikgeschichte, sondern vor allem an der Herangehensweise von Inszenierung und musikalischer Leitung, die beide auf das Allerschönste herausfordert.
Denn, hört man einmal hinein in eine der Legendenaufnahme dieser Oper, wird einem klar, wie modern diese jungen Sängerinnen agieren. Am nächsten in Temposchärfe und Attitüde kommt dem Lübecker Dirigat von Felix Krieger vielleicht Giuseppe Cantellis Liveaufnahme aus dem Jahre 1956. Da tummeln sich die Superstars jener Zeit, vielleicht sogar einer ganzen Epoche der Operngeschichte: Elisabeth Schwarzkopf und Nan Merriman. Beide, vor allem aber die deutsche Assoluta der Nachkriegszeit, rücken dem Material mit jener Absolutheit zu Leibe, die sich auf den ersten Blick anbietet, in vollkommener Bereitschaft zu Virtuosität und direkter Phrasierung. “Come scoglio”, die Arie zum standhaften Bekenntnis der Fiordiligi ist da ein gutes Beispiel. Più Allegro, noch schneller heisst es da im Schlussteil, und das wird von Elisabeth Schwarzkopf voll ausgekostet, ein wahres Furioso der Unnachgiebigkeit bereitet, der reine “Text”, das “E una barbara speranza non vi renda audaci ancor! ” (etwa: “Es soll nicht eine barbarische Hoffnung euch wieder verwegen machen!”) direkt in die Welt geschmettert.
Bei aller Ehrfurcht vor solchen Jahrhundertstimmen der Musikgeschichte – um wie vieles feiner ist der musikalisch-interpretatorische Ansatz in der heutigen Zeit? Eingedenk des Wissens um die fehlende Gültigkeit des Moments, die Pose und Fragilität der Position der Figur hat sich dieser Furor vollkommen überholt. Kein heftiges Accelerando ist mehr notwendig, keine Behauptung mehr sicher. So gehen denn sowohl Erica Eloff als auch Wioletta Hebrowska in dieser Inszenierung weitaus behutsamer an die mozartschen Vorgaben heran, lassen dadurch Raum für den immanenten Zweifel, an der Situation, am Stück und auch an der Musik. Wenn denn der Zweifel am Gesetzten eine Errungenschaft der Moderne ist, so ist er hier auf Äußerste verkörpert. Es ist ein Stück der Aufklärung.
So gebärdet sich denn auch das Spiel der Sängerinnen in Lübeck. Die eingangs so rüstungshafte Verkleidung, die einen arglosen Betrachter in die Irre führen könnte ob ihrer Historizität, schwindet im Laufe des Abends immer mehr. Natürlich ist es die zuerst dem albernen Ränkespiel der Männer folgende Figur der Dorabella, die sich zuerst die höfische Fassung verliert, die Schuhe schwinden, Einsteckärmel fallen zu Boden, ein Schoßjäckchen verschwindet. Ein Bild der fortschreitenden Auflösung, der sich auch die vermeintlich standhafte Fiordiligi nicht entziehen kann. Bis zum Ende, denn hier kann sich niemand in der Innenwelt der Bühne, jener theatralen Blase, an deren Rand sich alle entlang hangeln, entziehen. Hier wird die Dekonstruktion vollkommen, die Form, so wird gezeigt, ist vollends verloren, außer seiner Wäsche trägt keiner mehr etwas am Leib.
Der Schluss ist da, die Menschen beinahe nackt. In diesem starken, wenngleich nicht überraschenden, Topos liegt eine Form der Konsequenz, die in die Irre führen kann, sie suggeriert die Wahrhaftigkeit der Szene, die Läuterung, den eingeforderten Bruch. Hier kappt Leupold nun auch das Finale bis hin zu einem versiegenden Decrescendo, das Licht fährt herunter, folgerichtig zwar innerhalb des kunstvollen Gebildes ihrer Inszenierung. Trotzdem ist das, vielleicht als einziges an diesem Abend, wirklich schade, steht doch in Mozarts triumphierenden Tutti-Abschluss noch so viel mehr des Zweifels an der ganzen Sache geschrieben als uns dieser Fade-Out vorspiegelt. Im bekannten Brahmsschen Volkslied heißt es: “Und a bissele Falschheit is auch wohl dabei!” Das ist fürwahr untertrieben.
Die anspruchsvolle Besprechung spiegelt den außergewöhnlichen Anspruch der Lübecker Cosi fan tutte — Aufführung. So kann Theater geistig produktiv werden — eine Ehrung für das Lübecker Haus! Dank an beide: das LÜbecker Opernereignis und den Rezensenten.