Es war eine andere Zeit, Ende der achtziger Jahre, als Jürgen Flimm alles dafür tat, endgültig eine Theaterlegende zu werden. Spielzeit für Spielzeit purzelte eine Inszenierung des Jahres nach der nächsten heraus, geradezu sorglos ob seines phänomenalen Ensembles, das er mit kluger Hand immer wieder auffrischte, aus der Hinterhand aufmerksam gesteuert durch seinen Finanzkapitän Ludwig von Otting. Das Haus hatte Horwitz, Paulmann, Kurth, Kremer, Schwarz, Sprenger, Lichtenhahn, Trauttmansdorff, Rudolph, Bantzer, die Reihe ließe sich ad libitum fortsetzen.
Das Flimm-Theater jener Tage war ein konzentriertes, eines, das sich immer wieder in seine Figuren verliebte und ihnen den ganzen Budenzauber der Bühne zur Verfügung stellte, um sich zu entfalten. Nicht von ungefähr hat der “Platonow” aus dem Januar 1989 – jener bis dahin wenig gespielte Erstling des großen Anton Pavlovič Čechov – einen Ruf wie Donnerhall in Haus und Stadt, ein Spiel der Blicke und des großen Effekts – die drei Lichter des Zugs, das Feuerwerk, ach … Die Inszenierung ist ein Mythos in der Geschichte der Bühne am Alstertor, die sich dieses Jahr ein Jubiläum erdacht hat, ein hundertjähriges, zum Bestehen des nunmehr weißen Theaterbaus.
Natürlich bezieht sich die Kultursenatorin der ehrenwerten Hansestadt in ihrer Jubiläumsrede auf Jürgen Flimm, schiebt ihm ein schönes Peter-Brook-Zitat unter und der aktuelle Intendant, der wie immer hervorragend eloquente Joachim Lux, macht sich daran, Vergangenheit und Jubiläumsspielzeit zu verbinden und setzt “Platonow” als Eröffnungsinszenierung auf den Spielplan. Das kann man als Referenz verstehen, aber auch als den Versuch, sich vom ewigen Mythos zu lösen. Und er hat sich mit Jan Bosse einen Regisseur gewählt, der das Vermögen hat, sich der Vorbilder zu entledigen, ohne alles neu erfinden zu müssen, heutig zu sein, ohne einer schalen Modesucht zu verfallen. Das hat er schon vor zwei Jahren mit “Wie es euch gefällt” zeigen können, auch jenes ein Stück, das zur Flimm-Historie zählt.
Unter diesen Voraussetzungen geht der neue “Platonow” an den Start und es ist gleichermaßen überraschend wie erwartbar, dass wir an diesem so hoch gehängten Premierenabend Schauspieler auf der Bühne sehen, die spielen. Bosse ist eben keiner jener Konzeptkünstler vom Schlage eines Luc Perceval, dessen ennuierender “Kirschgarten” einem in der letzten Spielzeit ein fortwährendes “nun laß sie doch endlich mal machen” auf die Lippen treiben konnte.
Das Personal, schon in diesem Erstling eine typische Tschechow-Besetzung, die gelangweilten Landgutbewohner, deren Zeitvertreib es ist, die Zeit und das Leben zu vertreiben, bewohnt bei Bosse eine mobile Datsche, einen gezimmerten einachsigen Wohnwagen, der nicht auf dem weißen, knirschenden Kies einer Auffahrt parkt, sondern auf einer düsteren Schlackehalde. (Bühne: Stephane Laimé)
Im ersten Bild ist der Innenraum des Wagens mit Dekortapete und Jagdtrophäen behängt, Triletzkij (Jörg Pohl) und die Generalswitwe Anna Petrowna (Victoria Trauttmansdorff) kommen schon im stummen Anfangsspiel mit einem ausgestopften Reh unter dem Arm herein.
Der Raum ist eng, der Blick durch den hell erleuchteten Innenraum fokussiert auf die leuchtende Kiste in der vorderen Bühnenmitte, der Rest des leeren Raumes bleibt weitgehend unsichtbar, viel ändert sich daran im Laufe der folgenden 4 Stunden nicht.
Ja, und dann kommen sie, einer nach dem anderen, die Archetypen der tschechowschen Welt, der betrunkene Arzt, der alte Soldat, der in der Vergangenheit lebt, der erfolgreiche Geschäftsmann, der längst einer neuen Zeit zugehört und die Frauen, verheiratet mit diesen Männern, die ihre öde Existenz und die fernen Sehnsüchte auf eine Veränderung teilen. Und, viel später, er, der “tolle Platonow”, zynisch, sicherlich klug, und von allen Frauen begehrt.
Bosses Schauspieler reden miteinander, ohne sich anzuschauen. Die Zeiten sind eben tatsächlich anders als 1989, das intensive Kammerspiel ist vorbei, die Zeit der allgemeinen Behauptung des sich immer noch konstituierenden Jahrtausends ist angebrochen. Übrig geblieben sind die boulevardesken Alltagsplattitüden, die dem Text ja ohnehin zu eigen sind, und das nebeneinanderher reden selbst im Dialog der erotisch Verwirrten. Niemand beherrscht das Spiel zwischen Effekt und der Ahnung des Scheiterns so sehr wie Victoria Trauttmansdorff, die tatsächlich schon seit 1993 am Thalia ist. Was da alles zu sehen ist, an Verzweiflung und Sinnlichkeit, an Enttäuschung und Hoffnung, ist berückend. Und der Regisseur hat gut daran getan, dieser Schauspielerin Raum zu geben. Es ist eine Freude, das zu sehen.
Patricia Ziolkowska als Sofja, der viel spielende kühle Star der Thalia-Gegenwart, hat es schwer gegen diese geballte Kraft aus einer Vergangenheit, die so spielsüchtig war. Woher der Zauber der alten Liebe zu Platonow kommt, worin die Verbindung zwischen Platonow und ihrer Figur besteht, bleibt angesichts ihres wie immer technisch perfekten Spiels und ihrer wenig differenzierten Diktion ein wenig rätselhaft. Sie wirkt wie ein Fremdkörper in dem ansonsten munter aufspielenden Ensemble. Andererseits ist ihre kalte Andersartigkeit genau das Distinktionsmerkmal, das sie mit dem gescheiterten Dorfschullehrer gemein hat. Vielleicht ist das doch ein Konzept.
Und Jens Harzer? Jener Major Crampas des Thalia-Ensembles – “ein Damenmann” – macht seine Sache doch einigermaßen gut. Seine Manierismen, die wohl kein Regisseur ihm je austreiben wird, bleiben maßvoll und tatsächlich ist sein Platonow eine Figur, die gelegentlich anzurühren vermag. Das tappende Herumlavieren, sein oft weinerlicher Zynismus, die Unruhe des stetigen Projektionssubjekts ist stark: Es gibt keinen Menschen, an dem meine Seele mal ruhen kann – das klingt fast wie Büchners Woyzeck und tötet all das Boulevardeske dieses Stückes in einem einzigen Satz ab.
Bei aller Freude an der Darstellung und einer unprätentiösen Regie, an der Gegenwärtigkeit und der konsequenten Personenführung, am Ende geht der Sache komplett die Luft aus. In einem nicht endend wollenden Schlusstableau, auf leerer Schlackehalde, wird das Finale zu Brei gekaut, nichts passiert mehr. Das ist mit Sicherheit kein Konzept.
Die Datsche, das Haus, das Landgut ist verloren, der Wagen wird vom Rollkommando des Kaufmanns Bugrow (Matthias Leja) von der Bühne gefahren. (Russische Kaufleute sehen anscheinend heute alle so verkleidet aus wie Mišel Matičevićs Schergen in Dominiks Graf “Im Angesicht des Verbrechens”, mit reversbetonter und einreihig geknöpfter Lederjacke, Russenmafia eben, oder?) Danach ist tatsächlich Schluss.
Da ist nichts mehr von Feuer und Verzweiflung, Schauspieler stehen herum, ein bisschen Schreien, ein bißchen Schießen. Platonow tot, Perspektive erledigt. Wir sind im Jahr 2012 angekommen.
Großartig, Herr Schumann, großes Kritiker-Kino ohne Häme und tobende Verrisswut, sondern mit kultureller laid-back Verzweiflung geschrieben, die wir alle empfinden, die bei ausgegrabenem Theater immer noch freudig Entdeckungen erwarten und nicht wabernde Inszenierungs-Schnittmuster des Gewöhnlichen. Wir haben auch fertig mit Thalia und “ex thalia lux” — da leuchtet nix mehr!
Danke für die Blumen und gleichzeitig Einspruch: Das Thalia ist immer noch eine der wichtigsten deutschsprachigen Bühnen und es ist dort immer etwas zu erwarten. Also kein Überdruss, sondern eher Kritik am allgemein um sich greifenden Konzeptionstheater, von mir aus auch Theater “ohne Unterleib”.
Bosse gehört nun eindeutig nicht zu dieser über-konzeptionierenden Spezies. Und es ist ihm hochgradig anzurechnen, daß er nicht versucht hat, den Mythos zu brechen, sondern seine Zeitsicht auf den Text angewandt hat.
Und die Zeiten haben sich in der Tat geändert. Es wird ja nun gerade in der nächsten Spielzeit interessant, wenn endlich das Schauspielhaus eine neue Chance bekommt, obwohl sich die Ansätze von Joachim Lux und Karin Beier sehr ähneln. Und wir können gespannt sein, welches der beiden Häuser etwas Neues versuchen wird oder ob es zu einer Pattsituation kommen wird.
Ausserdem – man muss es sich immer wieder einmal klarmachen – sind wir in dieser Stadt, allen Unkenrufen zum Trotz, in einer höchst komfortablen Situation, was die Ausstattung mit hochklassigem Theater angeht. Das gibt es vielleicht noch in München oder in Berlin, aber sonst nirgendwo. Es bleibt spannend …