Zeitenwende

Jan Bosses »Platonow« am Thalia-Theater – 23 Jahre nach Jürgen Flimm

Der Zug kommt nicht mehr (Bild: © Nor­bert Sues­sen­guth — Fotolia.com)

Es war eine andere Zeit, Ende der achtziger Jahre, als Jür­gen Flimm alles dafür tat, endgültig eine The­ater­legende zu wer­den. Spielzeit für Spielzeit purzelte eine Insze­nierung des Jahres nach der näch­sten her­aus, ger­adezu sor­g­los ob seines phänom­e­nalen Ensem­bles, das er mit kluger Hand immer wieder auf­frischte, aus der Hin­ter­hand aufmerk­sam ges­teuert durch seinen Finanzkapitän Lud­wig von Otting. Das Haus hat­te Hor­witz, Paul­mann, Kurth, Kre­mer, Schwarz, Sprenger, Licht­en­hahn, Trauttmans­dorff, Rudolph, Bantzer, die Rei­he ließe sich ad libi­tum fort­set­zen.

Das Flimm-The­ater jen­er Tage war ein konzen­tri­ertes, eines, das sich immer wieder in seine Fig­uren ver­liebte und ihnen den ganzen Buden­za­uber der Bühne zur Ver­fü­gung stellte, um sich zu ent­fal­ten. Nicht von unge­fähr hat der “Platonow” aus dem Jan­u­ar 1989 – jen­er bis dahin wenig gespielte Erstling des großen Anton Pavlovič Čechov – einen Ruf wie Don­ner­hall in Haus und Stadt, ein Spiel der Blicke und des großen Effek­ts – die drei Lichter des Zugs, das Feuer­w­erk, ach … Die Insze­nierung ist ein Mythos in der Geschichte der Bühne am Alster­tor, die sich dieses Jahr ein Jubiläum erdacht hat, ein hun­dertjähriges, zum Beste­hen des nun­mehr weißen The­ater­baus.

Natür­lich bezieht sich die Kul­turse­n­a­torin der ehren­werten Hans­es­tadt in ihrer Jubiläum­srede auf Jür­gen Flimm, schiebt ihm ein schönes Peter-Brook-Zitat unter und der aktuelle Inten­dant, der wie immer her­vor­ra­gend elo­quente Joachim Lux, macht sich daran, Ver­gan­gen­heit und Jubiläumsspielzeit zu verbinden und set­zt “Platonow” als Eröff­nungsin­sze­nierung auf den Spielplan. Das kann man als Ref­erenz ver­ste­hen, aber auch als den Ver­such, sich vom ewigen Mythos zu lösen. Und er hat sich mit Jan Bosse einen Regis­seur gewählt, der das Ver­mö­gen hat, sich der Vor­bilder zu entledi­gen, ohne alles neu erfind­en zu müssen, heutig zu sein, ohne ein­er schalen Mod­esucht zu ver­fall­en. Das hat er schon vor zwei Jahren mit “Wie es euch gefällt” zeigen kön­nen, auch jenes ein Stück, das zur Flimm-His­to­rie zählt.

Unter diesen Voraus­set­zun­gen geht der neue “Platonow” an den Start und es ist gle­icher­maßen über­raschend wie erwart­bar, dass wir an diesem so hoch gehängten Pre­mier­en­abend Schaus­piel­er auf der Bühne sehen, die spie­len. Bosse ist eben kein­er jen­er Konzep­tkün­stler vom Schlage eines Luc Perce­val, dessen ennuieren­der “Kirschgarten” einem in der let­zten Spielzeit ein fortwähren­des “nun laß sie doch endlich mal machen” auf die Lip­pen treiben kon­nte.

Das Per­son­al, schon in diesem Erstling eine typ­is­che Tsche­chow-Beset­zung, die gelang­weil­ten Landgut­be­wohn­er, deren Zeitvertreib es ist, die Zeit und das Leben zu vertreiben, bewohnt bei Bosse eine mobile Datsche, einen gez­im­merten einach­si­gen Wohn­wa­gen, der nicht auf dem weißen, knirschen­den Kies ein­er Auf­fahrt parkt, son­dern auf ein­er düsteren Schlack­e­halde. (Bühne: Stephane Laimé)

Im ersten Bild ist der Innen­raum des Wagens mit Deko­r­tapete und Jagdtrophäen behängt, Trilet­zk­ij (Jörg Pohl) und die Gen­er­al­switwe Anna Petrow­na (Vic­to­ria Trauttmans­dorff) kom­men schon im stum­men Anfangsspiel mit einem aus­gestopften Reh unter dem Arm here­in.

Der Raum ist eng, der Blick durch den hell erleuchteten Innen­raum fokussiert auf die leuch­t­ende Kiste in der vorderen Büh­nen­mitte, der Rest des leeren Raumes bleibt weit­ge­hend unsicht­bar, viel ändert sich daran im Laufe der fol­gen­den 4 Stun­den nicht.

Ja, und dann kom­men sie, ein­er nach dem anderen, die Arche­typen der tsche­chowschen Welt, der betrunk­ene Arzt, der alte Sol­dat, der in der Ver­gan­gen­heit lebt, der erfol­gre­iche Geschäfts­mann, der längst ein­er neuen Zeit zuge­hört und die Frauen, ver­heiratet mit diesen Män­nern, die ihre öde Exis­tenz und die fer­nen Sehn­süchte auf eine Verän­derung teilen. Und, viel später, er, der “tolle Platonow”, zynisch, sicher­lich klug, und von allen Frauen begehrt.

Boss­es Schaus­piel­er reden miteinan­der, ohne sich anzuschauen. Die Zeit­en sind eben tat­säch­lich anders als 1989, das inten­sive Kam­mer­spiel ist vor­bei, die Zeit der all­ge­meinen Behaup­tung des sich immer noch kon­sti­tu­ieren­den Jahrtausends ist ange­brochen. Übrig geblieben sind die boule­vardesken All­t­agsplat­titü­den, die dem Text ja ohne­hin zu eigen sind, und das nebeneinan­der­her reden selb­st im Dia­log der ero­tisch Ver­wirrten. Nie­mand beherrscht das Spiel zwis­chen Effekt und der Ahnung des Scheit­erns so sehr wie Vic­to­ria Trauttmans­dorff, die tat­säch­lich schon seit 1993 am Thalia ist. Was da alles zu sehen ist, an Verzwei­flung und Sinnlichkeit, an Ent­täuschung und Hoff­nung, ist berück­end. Und der Regis­seur hat gut daran getan, dieser Schaus­pielerin Raum zu geben. Es ist eine Freude, das zu sehen.

Patri­cia Ziolkows­ka als Sof­ja, der viel spie­lende küh­le Star der Thalia-Gegen­wart, hat es schw­er gegen diese geballte Kraft aus ein­er Ver­gan­gen­heit, die so spiel­süchtig war. Woher der Zauber der alten Liebe zu Platonow kommt, worin die Verbindung zwis­chen Platonow und ihrer Fig­ur beste­ht, bleibt angesichts ihres wie immer tech­nisch per­fek­ten Spiels und ihrer wenig dif­feren­zierten Dik­tion ein wenig rät­sel­haft.  Sie wirkt wie ein Fremd­kör­p­er in dem anson­sten munter auf­spie­len­den Ensem­ble. Ander­er­seits ist ihre kalte Ander­sar­tigkeit genau das Dis­tink­tion­s­merk­mal, das sie mit dem gescheit­erten Dorf­schullehrer gemein hat. Vielle­icht ist das doch ein Konzept.

Und Jens Harz­er? Jen­er Major Cram­pas des Thalia-Ensem­bles – “ein Damen­mann” – macht seine Sache doch einiger­maßen gut. Seine Manieris­men, die wohl kein Regis­seur ihm je aus­treiben wird, bleiben maßvoll und tat­säch­lich ist sein Platonow eine Fig­ur, die gele­gentlich anzurühren ver­mag. Das tap­pende Herumlavieren, sein oft wein­er­lich­er Zynis­mus, die Unruhe des steti­gen Pro­jek­tion­ssub­jek­ts ist stark: Es gibt keinen Men­schen, an dem meine Seele mal ruhen kann – das klingt fast wie Büch­n­ers Woyzeck und tötet all das Boule­vardeske dieses Stück­es in einem einzi­gen Satz ab.

Bei aller Freude an der Darstel­lung und ein­er unprä­ten­tiösen Regie, an der Gegen­wär­tigkeit und der kon­se­quenten Per­so­n­en­führung, am Ende geht der Sache kom­plett die Luft aus. In einem nicht endend wol­len­den Schlusstableau, auf leer­er Schlack­e­halde, wird das Finale zu Brei gekaut, nichts passiert mehr. Das ist mit Sicher­heit kein Konzept.

Die Datsche, das Haus, das Landgut ist ver­loren, der Wagen wird vom Rol­lkom­man­do des Kauf­manns Bugrow (Matthias Leja) von der Bühne gefahren. (Rus­sis­che Kau­fleute sehen anscheinend heute alle so verklei­det aus wie Mišel Matiče­vićs Scher­gen in Dominiks Graf “Im Angesicht des Ver­brechens”, mit revers­be­ton­ter und ein­rei­hig geknöpfter Led­er­jacke, Russen­mafia eben, oder?) Danach ist tat­säch­lich Schluss.

Da ist nichts mehr von Feuer und Verzwei­flung, Schaus­piel­er ste­hen herum, ein biss­chen Schreien, ein bißchen Schießen. Platonow tot, Per­spek­tive erledigt. Wir sind im Jahr 2012 angekom­men.

2 Kommentare

  1. Großar­tig, Herr Schu­mann, großes Kri­tik­er-Kino ohne Häme und tobende Ver­ris­s­wut, son­dern mit kul­tureller laid-back Verzwei­flung geschrieben, die wir alle empfind­en, die bei aus­ge­graben­em The­ater immer noch freudig Ent­deck­un­gen erwarten und nicht wabernde Insze­nierungs-Schnittmuster des Gewöhn­lichen. Wir haben auch fer­tig mit Thalia und “ex thalia lux” — da leuchtet nix mehr!

    • Danke für die Blu­men und gle­ichzeit­ig Ein­spruch: Das Thalia ist immer noch eine der wichtig­sten deutschsprachi­gen Büh­nen und es ist dort immer etwas zu erwarten. Also kein Über­druss, son­dern eher Kri­tik am all­ge­mein um sich greifend­en Konzep­tion­sthe­ater, von mir aus auch The­ater “ohne Unter­leib”.

      Bosse gehört nun ein­deutig nicht zu dieser über-konzep­tion­ieren­den Spezies. Und es ist ihm hochgr­a­dig anzurech­nen, daß er nicht ver­sucht hat, den Mythos zu brechen, son­dern seine Zeit­sicht auf den Text ange­wandt hat.

      Und die Zeit­en haben sich in der Tat geän­dert. Es wird ja nun ger­ade in der näch­sten Spielzeit inter­es­sant, wenn endlich das Schaus­piel­haus eine neue Chance bekommt, obwohl sich die Ansätze von Joachim Lux und Karin Beier sehr ähneln. Und wir kön­nen ges­pan­nt sein, welch­es der bei­den Häuser etwas Neues ver­suchen wird oder ob es zu ein­er Pattsi­t­u­a­tion kom­men wird.

      Ausser­dem – man muss es sich immer wieder ein­mal klar­ma­chen – sind wir in dieser Stadt, allen Unken­rufen zum Trotz, in ein­er höchst kom­fort­ablen Sit­u­a­tion, was die Ausstat­tung mit hochk­las­sigem The­ater ange­ht. Das gibt es vielle­icht noch in München oder in Berlin, aber son­st nir­gend­wo. Es bleibt span­nend …

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