Es ist immer noch eine bemerkenswerte Gegend hier, überall Fassaden und Fallwinde. Zwar reiht sich inzwischen Baum an Baum, auch ihnen jedoch gönnt man Behausungen, sie stehen in normierten, brusthohen Kübeln. Eine Ahnung von Synthetik ist überall in dem immer noch neuen Stadtteil, den sie in Hamburg stolz “HafenCity” nennen, als sei dies ein Zentrum des geschäftigen Lebens.
Tourismus, gewiss, Busse, Menschen, die umherschauen, aber als lebendiger Stadtteil kommt das neue Viertel auch nach 10 Jahren immer noch nicht daher, dabei bemüht man sich, ganz nach Richard Floridas um die Jahrtausendwende modernen Stadtentwicklungstheorie, den Ort mit kulturellem Leben zu füllen.
Festivals, die sich mit dem Hafen-Label schmücken, Veranstaltungsreihen, Wettbewerbe, selbst der Evangelische Kirchentag war hier zu Gast – denn wo die “Kreativszene” sich tummelt, kommen die Menschen, so nimmt immer noch jeder an, der Floridas “The Rise of the Creative Class” gelesen hat, an. Viele “Leuchtturm-Projekte” sind hier entstanden, Einzelbauten, mit der Absicht, so weit hinaus wie möglich in die Welt hinaus zu strahlen. Inzwischen ist das Buch nicht mehr so modern, und ob es eine Welt gibt, die davon beschienen wird, ist nicht mehr so gewiss.
Wenn man von einem der hohen Gebäude einmal nicht auf das Hautprestigeprojekt auf dem Kaiserhöft schaut, sondern den Blick nach Norden schweifen lässt, über den begrenzenden Zollkanal hinaus, erblickt man die gekrönte Spitze einer der fünf Hamburger Hauptkirchen, St. Katharinen. Sie ist von hier über die alten Zollbrücken zu erreichen, ein Wassergraben trennt die Stadtteile. In der HafenCity wohnen um die 1.300 Menschen, die wenigsten von ihnen dürften diese Kirche einmal von innen gesehen haben.
So ist in der Shanghaiallee – die Namen der Straßen hier erinnern an die lukrativen Überseegeschäfte der altehrwürdigen Hamburger Kaufmannschaft – auf Betreiben der Initiative christlicher Kirchen in Hamburg, ein ökumenisches Zentrum entstanden. Ein Kirchenneubau zwischen all den anderen Neubauten, rein äusserlich ein äußerst schlichtes Gebäude – serielle Fensterreihen im Rotklinker – der neben einem Café mit dem – alle Erwartungsklischees von Glaubensspöttern bedienenden – Namen “ElbFaire” auch eine Kapelle beherbergt.
Äusserste gestalterische Zurückhaltung und Kargheit prägen den namenlosen Raum, verglichen mit diesem ist ein calvinistischer Andachtsraum ein barocker Palast. Rote Ziegel, wie aufeinandergestapelt im Halbrund bis zur Decke, ein heller Holztisch, rechts davon ein Kreuz – schlichter geht es nicht. Auch in dieser architektonisch überaus elaborierten Umgebung findet sich der synthetische Geist des gesamten Areals wieder.
Ein ungemein zurückhaltender Ort, von kontemplativer Erhabenheit ist er aber weit entfernt, zu kleinteilig ist das gerasterte Raumensemble. Es fällt schwer, sich vorzustellen, hier eine innere Sammlung aufzubauen, gar in Andacht zu fallen.
Der Eindruck ist trotz der warmen Ziegeltöne und gelber Rückbeleuchtung kühl, es ist eine angemessene Fortsetzung der konstruktiven Welt all der architektonischen Solitäre ausserhalb.
Dass auch minimale Neuerungen Dinge ändern können, kann man seit der Nacht der Kirchen am 12. September erleben, eine kleine Installation hängt seitdem hier, die die Hamburger Raumkünstlerin Claudia Reich entwickelt hat. Das Motto der Kirchennacht war in diesem Jahr “Beflügelt”, so heißt auch diese Rauminszenierung.
Die Künstlerin hat Papiervögel gefaltet, 365 an der Zahl und in die durch das Halbrund angedeutete Apsis, also den Raum hinter dem Altartisch der Kapelle, gehängt. Jeder dieser papiernen Vögel scheint, an dünnem Faden schwebend, in eine andere Richtungen zu schweben, leichte Schwerpunktverlagerungen in der Aufhängung bestimmen Auf- oder Abwärtsflug. Die Anordnung erscheint willkürlich, die weißen Papiertiere bilden eine heterogene Wolke.
So einfach die Mittel sind, so gross ist die Auswirkung auf den Betrachter. Das Auge, das zuvor nur das Ziegelraster als Anhaltspunkt hatte, findet plötzlich einen Fixpunkt. Seltsam mehrdimensional wird der schmale Streifen, vielleicht eineinhalb oder zwei Meter breit, der für die Hängung zur Verfügung steht. Tritt man zurück, setzt sich in eine der Stuhlreihen, und lässt den Blick schweifen, so scheinen die Miniaturskulpturen mit ihren Falz- und Bruchkanten Bewegungen zu entwickeln, aufstrebend, schwebend.
“Beflügelt” lebt von der Imagination von Bewegung und Veränderung, obwohl ihre “Protagonisten” nur aus einem Muster bestehen, also in der Form komplett identisch und doch relativ statisch angebracht sind. Gäbe es hier einen Lufthauch, würden sich die Objekte vermutlich um ihre Hängung drehen, das passiert bei aller filigranen Anlage erstaunlicherweise nicht.
Über die ikonographische Bedeutung weißer Vögel im Kontext von Glauben und Kirche ließe sich viel sagen, doch gerade die Abwesenheit von Erklärungen und bedeutungsstiftender Zusatzinformation gibt Raum für Versenkung; und die hübsche Vorstellung, seine Ideen und Gedanken mit dem ungefiederten Schwarm fliegen zu lassen, ist ungemein reizvoll. Wo könnte der Ort zur Reflexion eher sein, als in einer Kapelle, gleich welcher Konfession. Unwillkürlich mag man da an das Urgedicht deutscher Romantik, Eichendorffs “Mondnacht” denken:
Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.
Eine Art der Offenbarung im Gedanken zu finden, ist kein schlechter Ansatz. Am 20. 11. soll die Installation ihren letzten Tag an diesem Ort erleben. Was wäre, wenn nicht? Wenn es weiter ginge? Auch diesen Gedanken kann man getrost einmal fliegen lassen …
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