Wenn vielleicht jemand nicht mehr spricht, liegt das daran, dass die Welt, mit der er gesprochen hat, nicht mehr dieselbe ist” stößt Donni Wager hervor, während er in halsbrecherischem Tempo von der Fensterbank über die Lehne der Couch rast und in sein Nest flüchtet, das er aus Abfall, Ästen und Stoffen gebaut hat. “Er hat halt ADHS”, sagt Vater John achselzuckend mit schwerem österreichischem Dialekt, “aba des is ja noch ned ois.” Wir sind zu Besuch in der Wohnung von Famile Wager, Johns Frau Tracey Maria sitzt mit inhaltsleerem Blick neben ihm auf dem Bett, und seine Schwiegermutter klagt, dass sie aufgehört hat, Johns Bierflaschen zu zählen.
Etwa 30 Minuten zuvor wartet eine Gruppe Menschen in der Kälte vor der ehemaligen Elise-Averdieck-Schule. Als man sie hereinbittet, zeigen sie ihre Einladungen vor zum “Tag der offenen Tür” im Haus Lebensbaum. Die Schwestern blicken streng, ein Mädchen im Rollstuhl juchzt und klatscht, wenn man ihr die Einladung zeigt, aufgeregt stößt sie die Namen der Gäste hervor. “Zeigen Sie sie ihr“, sagt die Schwester, “sonst regt Belle sich so auf.” Beim Aufhängen der Jacken sitzt ein in sich zusammengekauertes Kind in der Ecke der Garderobe, schlägt mit einem Löffel auf den Eimer, den es sich über den Kopf gestülpt hat.
“Das Haus Lebensbaum öffnet seine Türen zum ersten Mal nach zehn Jahren völliger Verschlossenheit”, steht in der Einladung. “Wir laden Sie dazu ein, gemeinsame Stunden mit uns zu verleben und unseren Familienalltag näher kennenzulernen.” In der Aula riecht es streng, und die Gäste wissen sichtlich nicht so recht, wie sie sich verhalten sollen. Man setzt sich in die Stuhlreihen und lässt sich begrüßen von den sechs Familien und Dr. Marius Mittag. Letzterer setzt sich schwungvoll an die Hammond-Orgel, während die Insassen eine deutsche Version von Michael Jacksons “Earth Song” anstimmen. Einige von ihnen scheinen nahezu erleuchtet.
Die Gäste werden aufgeteilt und machen sich grüppchenweise auf den Weg in die Wohnung je einer der sechs Familien. Und damit nehmen sechs Stunden Fahrt auf, nach denen man kopfschüttelnd auf der Straße steht und sich fragt, ob eine Illusion realistischer sein kann als diese, in der man sich die letzten Stunden bewegt hat. Ein Mosaik hat sich zusammengesetzt, ein Bild aus unterschiedlichsten Geschichten, die doch alle einen Kern in sich tragen: Verstörung durch ein Trauma und ein Haufen Mystik.
In dieser mystischen Welt hat vor 20 Jahren ein Unfall stattgefunden in der Nähe eines Truckertreffs in Finkenwerder. Eine verwirrte Frau – Maria Maria Brink, wie wir später erfahren – lief plötzlich auf die Autobahn, und fünf Wagen rasten in den Schweinetransporter hinein, den John Wager steuerte. Die Schweine seien alle blutig im Schnee gelegen, heißt es in einem Zeitungsartikel, den mir Familie Gerstein zeigt, ein verstörender Anblick sei das gewesen. Alle beteiligten Familien wurden nach diesem traumatischen Ereignis von Dr. Marius Mittag im UKE betreut. Bei allen Paaren hieß die Mutter mit zweitem Namen Maria. Alle Marias gebaren neun Monate nach dem Unglück ein Kind mit schwarzen Augen.
So weit, so wahnsinnig die Geschichte, die sich aus den Gesprächen in den sechs Wohnungen zusammensetzt. Die Kinder mit den schwarzen Augen haben eine Gabe. Sie sehen eine düstere Zukunft, einen großen Sturm, in dem die Menschheit zugrunde gehen wird. Nur wir nicht. Denn wir werden mit den Kindern auf eine große Reise gehen. Wir werden einen fertig gepackten Koffer in der Wohnung bereithalten für den Tag, an dem es so weit ist. Und wir werden die schwarzäugigen Kinder am Truckertreff in Finkenwerder treffen. Sie geben uns einen Zettel, auf dem die Adresse steht. Kritisch wird beäugt, was ich mit meinem Zettel mache. Ich stecke ihn in meinen Geldbeutel.
Bei Dr. Marius Mittag sitze ich und esse ein hart gekochtes Ei, das er mir in einer Nierenschale gereicht hat. Wir hören die Theorie zum Teiresias-Syndrom, jener Krankheit, die er bei den schwarzäugigen Kindern festgestellt hat. Verursacht wurde sie durch Hormonausschüttungen der Mütter durch den Unfall, aber natürlich ist das Ganze noch viel komplexer. Er gibt uns einen Handzettel, in dem wir das genauer nachlesen können, und so sehr wir uns auch bemühen, tiefer zu fragen, er hat auf alles eine Antwort.
“Das Teiresias-Syndrom manifestiert sich nicht individuell intrapsychisch, sondern kollektiv interpsychisch, in der Mutter-Kind-Dyade” steht auf dem Handzettel, “in manchen Fällen unter Einbeziehung eines Geschwisters als Triangulierung.” Diese Krankheit ist ein Konstrukt, das SIGNA bis in die Tiefen durchdacht hat. Wir werden hier nicht an den Punkt kommen, wo die Illusion bricht.
Es darf an dieser Stelle nicht mehr verraten werden. Man muss das erleben. Eigentlich sprechen wir auf dieser Seite keine Empfehlungen aus, aber in dem Fall muss ich eine Ausnahme machen. Erwerben Sie ein Ticket für “Schwarze Augen, Maria” beim Deutschen Schauspielhaus, besuchen Sie das Haus Lebensbaum und lassen Sie sich ein auf sieben wahnwitzige Stunden. Trinken Sie Kaffee, Schnaps und warmes Bier mit den Familien. Lassen Sie sich von Maria Maria Brink erzählen, warum sie auf die Straße lief, lassen Sie sich von Billy Gerstein umarmen, sehen Sie Carlo Traub zu, wie er all seine Puppen auf der Treppe aufbaut, um Ihnen dann den Puls zu fühlen.
Sie meinen, das mache keinen Sinn? Woher wollen Sie das wissen? Vielleicht macht ja auch ein Leben ohne das Haus Lebensbaum keinen Sinn. Eine Kulisse, die keine Kulisse mehr ist, Schauspieler, die Sie den Atem anhalten lassen werden, ein Gebäude, das viel mehr ist als eine bis ins letzte Detail geplante Illusion – kurz: eine ganz eigene Welt. Nehmen Sie sich für danach nichts vor. Bewegen Sie sich lieber noch ein wenig in diesem Paralleluniversum. Es lohnt sich.
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