Willkommen im Paralleluniversum

Das Kopenhagener Performance-Kollektiv SIGNA schafft mit »Schwarze Augen, Maria« eine Welt, bei der es sich lohnt, sich zu ergeben.

Was übrig blieb in der Anstalt: Kaffesahne, Papierhüte und warmes Bier (Bild: HHF)
Was übrig blieb in der Anstalt: Kaffe­sahne, Papier­hüte und warmes Bier (Bild: HHF)

Wenn vielle­icht jemand nicht mehr spricht, liegt das daran, dass die Welt, mit der er gesprochen hat, nicht mehr dieselbe ist” stößt Don­ni Wager her­vor, während er in hals­brecherischem Tem­po von der Fen­ster­bank über die Lehne der Couch rast und in sein Nest flüchtet, das er aus Abfall, Ästen und Stof­fen gebaut hat. “Er hat halt ADHS”, sagt Vater John achselzuck­end mit schw­erem öster­re­ichis­chem Dialekt, “aba des is ja noch ned ois.” Wir sind zu Besuch in der Woh­nung von Famile Wager, Johns Frau Tracey Maria sitzt mit inhalt­sleerem Blick neben ihm auf dem Bett, und seine Schwiegermut­ter klagt, dass sie aufge­hört hat, Johns Bier­flaschen zu zählen.

Etwa 30 Minuten zuvor wartet eine Gruppe Men­schen in der Kälte vor der ehe­ma­li­gen Elise-Averdieck-Schule. Als man sie here­in­bit­tet, zeigen sie ihre Ein­ladun­gen vor zum “Tag der offe­nen Tür” im Haus Lebens­baum. Die Schwest­ern blick­en streng, ein Mäd­chen im Roll­stuhl juchzt und klatscht, wenn man ihr die Ein­ladung zeigt, aufgeregt stößt sie die Namen der Gäste her­vor. “Zeigen Sie sie ihr“, sagt die Schwest­er, “son­st regt Belle sich so auf.” Beim Aufhän­gen der Jack­en sitzt ein in sich zusam­mengekauertes Kind in der Ecke der Garder­obe, schlägt mit einem Löf­fel auf den Eimer, den es sich über den Kopf gestülpt hat.

Das Haus Lebens­baum öffnet seine Türen zum ersten Mal nach zehn Jahren völ­liger Ver­schlossen­heit”, ste­ht in der Ein­ladung. “Wir laden Sie dazu ein, gemein­same Stun­den mit uns zu ver­leben und unseren Fam­i­lien­all­t­ag näher ken­nen­zuler­nen.” In der Aula riecht es streng, und die Gäste wis­sen sichtlich nicht so recht, wie sie sich ver­hal­ten sollen. Man set­zt sich in die Stuhlrei­hen und lässt sich begrüßen von den sechs Fam­i­lien und Dr. Mar­ius Mit­tag. Let­zter­er set­zt sich schwungvoll an die Ham­mond-Orgel, während die Insassen eine deutsche Ver­sion von Michael Jack­sons “Earth Song” anstim­men. Einige von ihnen scheinen nahezu erleuchtet.

Die Gäste wer­den aufgeteilt und machen sich grüp­pchen­weise auf den Weg in die Woh­nung je ein­er der sechs Fam­i­lien. Und damit nehmen sechs Stun­den Fahrt auf, nach denen man kopf­schüt­tel­nd auf der Straße ste­ht und sich fragt, ob eine Illu­sion real­is­tis­ch­er sein kann als diese, in der man sich die let­zten Stun­den bewegt hat. Ein Mosaik hat sich zusam­menge­set­zt, ein Bild aus unter­schiedlich­sten Geschicht­en, die doch alle einen Kern in sich tra­gen: Ver­störung durch ein Trau­ma und ein Haufen Mys­tik.

In dieser mys­tis­chen Welt hat vor 20 Jahren ein Unfall stattge­fun­den in der Nähe eines Truck­ertr­e­ffs in Finken­werder. Eine ver­wirrte Frau – Maria Maria Brink, wie wir später erfahren – lief plöt­zlich auf die Auto­bahn, und fünf Wagen ras­ten in den Schweine­trans­porter hinein, den John Wager steuerte. Die Schweine seien alle blutig im Schnee gele­gen, heißt es in einem Zeitungsar­tikel, den mir Fam­i­lie Ger­stein zeigt, ein ver­stören­der Anblick sei das gewe­sen. Alle beteiligten Fam­i­lien wur­den nach diesem trau­ma­tis­chen Ereig­nis von Dr. Mar­ius Mit­tag im UKE betreut. Bei allen Paaren hieß die Mut­ter mit zweit­em Namen Maria. Alle Marias gebaren neun Monate nach dem Unglück ein Kind mit schwarzen Augen.

So weit, so wahnsin­nig die Geschichte, die sich aus den Gesprächen in den sechs Woh­nun­gen zusam­menset­zt. Die Kinder mit den schwarzen Augen haben eine Gabe. Sie sehen eine düstere Zukun­ft, einen großen Sturm, in dem die Men­schheit zugrunde gehen wird. Nur wir nicht. Denn wir wer­den mit den Kindern auf eine große Reise gehen. Wir wer­den einen fer­tig gepack­ten Kof­fer in der Woh­nung bere­i­thal­ten für den Tag, an dem es so weit ist. Und wir wer­den die schwarzäugi­gen Kinder am Truck­ertr­e­ff in Finken­werder tre­f­fen. Sie geben uns einen Zettel, auf dem die Adresse ste­ht. Kri­tisch wird beäugt, was ich mit meinem Zettel mache. Ich stecke ihn in meinen Geld­beu­tel.

Bei Dr. Mar­ius Mit­tag sitze ich und esse ein hart gekocht­es Ei, das er mir in ein­er Nieren­schale gere­icht hat. Wir hören die The­o­rie zum Teire­sias-Syn­drom, jen­er  Krankheit, die er bei den schwarzäugi­gen Kindern fest­gestellt hat. Verur­sacht wurde sie durch Hor­monauss­chüt­tun­gen der Müt­ter durch den Unfall, aber natür­lich ist das Ganze noch viel kom­plex­er. Er gibt uns einen Handzettel, in dem wir das genauer nach­le­sen kön­nen, und so sehr wir uns auch bemühen, tiefer zu fra­gen, er hat auf alles eine Antwort.

“Das Teire­sias-Syn­drom man­i­festiert sich nicht indi­vidu­ell intrapsy­chisch, son­dern kollek­tiv interpsy­chisch, in der Mut­ter-Kind-Dyade” steht auf dem Handzettel, “in manchen Fällen unter Ein­beziehung eines Geschwis­ters als Tri­an­gulierung.” Diese Krankheit ist ein Kon­strukt, das SIGNA bis in die Tiefen durch­dacht hat. Wir wer­den hier nicht an den Punkt kom­men, wo die Illu­sion bricht.

Es darf an dieser Stelle nicht mehr ver­rat­en wer­den. Man muss das erleben. Eigentlich sprechen wir auf dieser Seite keine Empfehlun­gen aus, aber in dem Fall muss ich eine Aus­nahme machen. Erwer­ben Sie ein Tick­et für “Schwarze Augen, Maria” beim Deutschen Schaus­piel­haus, besuchen Sie das Haus Lebens­baum und lassen Sie sich ein auf sieben wah­n­witzige Stun­den. Trinken Sie Kaf­fee, Schnaps und warmes Bier mit den Fam­i­lien. Lassen Sie sich von Maria Maria Brink erzählen, warum sie auf die Straße lief, lassen Sie sich von Bil­ly Ger­stein umar­men, sehen Sie Car­lo Traub zu, wie er all seine Pup­pen auf der Treppe auf­baut, um Ihnen dann den Puls zu fühlen.

Sie meinen, das mache keinen Sinn? Woher wollen Sie das wis­sen? Vielle­icht macht ja auch ein Leben ohne das Haus Lebens­baum keinen Sinn. Eine Kulisse, die keine Kulisse mehr ist, Schaus­piel­er, die Sie den Atem anhal­ten lassen wer­den, ein Gebäude, das viel mehr ist als eine bis ins let­zte Detail geplante Illu­sion – kurz: eine ganz eigene Welt. Nehmen Sie sich für danach nichts vor. Bewe­gen Sie sich lieber noch ein wenig in diesem Par­al­lelu­ni­ver­sum. Es lohnt sich.

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