Gustav Mahler betrachtet die Welt zur Jahrhundertwende als sinnloses Wirrwarr, das dem Untergang geweiht ist. In seiner Musik geht es um die Tragödie der Menschheit, Krieg, Wahnsinn und Tod. Mahler behält Recht mit seiner Vorahnung, der er in seinen Kompositionen immer wieder Ausdruck verleiht: Der erste Weltkrieg bricht aus. Platel übernimmt die düstere Vision in seiner Choreographie, die im September auf der Ruhrtriennale ihre Uraufführung feierte und jetzt auf Kampnagel zu sehen ist: Musik (Komposition: Steven Prengels), Bühnenbild (Berlinde De Bruyckere) und Choreografie sind eine Anspielung auf Mahlers Vorahnung: den Untergang der Menschheit.
Bereits zu Beginn seines Stücks demonstriert Platel Brutalität und Zerstörung mit einem erschreckenden Bühnenbild: In Mitte der Bühne liegen drei präparierte Pferdekadaver. Um sie herum warten neun Tänzer. Im Hintergrund sind Herdenglocken und Klänge eines Xylophons zu vernehmen, Mahlers sechste Sinfonie. Die Herdenglocken symbolisieren in Mahlers Werk einen Zustand des völligen Alleinseins. Allein und ruhig wirken auch die Tänzer. Jeder ignoriert den anderen, in völliger Stille mit sich selbst. Bis sie in einen Chor einstimmen. Der wiederkehrende Satz “Hör auf, zu beben!” aus Mahlers Auferstehungssinfonie lässt ahnen, dass die Stille unter den Tänzern trügt.
Dann ergreift die Bühne ein Mix aus klassischem Ballett, Breakdance und Contemporary. Die einzelnen Tänzer bewegen sich wirr, zunächst ohne sich zu berühren, bis einer den anderen angreift. Ein heftiger Kampf entspinnt sich. Die Tänzer reißen sich die Kleider vom Leib, schreien, zerren aneinander, spucken sich an, ziehen sich gegenseitig zu Boden. Auf Angriff folgt Gegenangriff. Jeder gegen jeden, sinnlos. Der Hass ist grenzenlos, die Bösartigkeit beängstigend. Das aggressive und brutale Schauspiel geht unter die Haut.
Es ertönt ein Andante, der Ruhepunkt in Mahlers Sinfonien. Ruhig, aber wachsam betrachten die Tänzer, was sie angerichtet haben. Wie in Trance räumen sie die Kleiderfetzen auf und beginnen in synchronen Bewegungen über die Bühne zu gleiten. Ihr Zusammenspiel wirkt auf eine überraschende Art harmonisch.
Ein Marschrhythmus, ebenfalls ein wiederkehrendes Stilelement in Mahlers Werken, erklingt. Wie Soldaten paradieren die Tänzer im Gleichschritt auf der Bühne. Dann mischen sich afrikanische Rhythmen unter Mahlers Sinfonie. Die Tänzer, mit Rasseln bestückt, tanzen jetzt zu dem afrikanischen Gesang der beiden kongolesischen Sänger Boule Mpanya und Russell Tshieba, ein Ausdruck großer Lebensfreude – bis ihr Kampf erneut beginnt.
Die Tänzer sind hin- und hergerissen zwischen Kampf und Harmonie, zwischen Rastlosigkeit und Stille, zwischen Hass und Liebe. Sie ringen miteinander, aber auch mit sich selbst, mit dem eigenen Körper. Sie zucken, fast schon epileptisch. Erneut entsteht ein Wechsel aus Wut, Schmerz und Wahn. Ein Tänzer wird theatralisch hingerichtet. In seinen letzten Atem mischt sich aus dem Hintergrund Vogelgezwitscher und das Schnauben von Säugetieren, ein Abschiedsgruß lebender Wesen. Wieder kehrt Stille ein, Schockstarre, das böse Erwachen. Doch wie im Geisteswahn setzen die Tänzer ihre Perversion fort. Sie vergehen sich an der Leiche, skalpieren sie, kopulieren mit den Pferdekadavern, koitieren mit einander, rülpsen. Der Mensch mit all seinen Widerlichkeiten, ekelhaft, abstoßend und obszön.
Platels Interpretation der Mahler’schen Werke könnte das aktuelle Zeitgeschehen nicht besser wiederspiegeln. Zur Jahrhundertwende wie auch heute ist das Zeitgeschehen geprägt von Unilateralität und Krisen, von Nationalismus und Zusammenbruch. Eine Welt, wie sie einst auch Mahler begegnete.
Platel gelingt es, Mahlers musikalische Elemente der Verzweiflung, der Tragik und der unerfüllten Sehnsucht nach Ruhe und Frieden in eine Choreografie einfließen zu lassen, die zugleich verstört und begeistert.
An einigen Stellen möchte man einfach nur wegsehen und ignorieren, was da auf der Bühne geschieht. Und dann wird man doch wieder in das Stück hineingezogen durch die herausragende tänzerische und darstellerische Leistung von Platels Compagnie “les ballets C de la B”.
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