Kannst du die Luft auf deiner Haut spüren?

Ein Besuch beim MS DOCKVILLE 2012 – Fragen und Antworten

Ist Pop Kun­st? Ist Kun­st Pop? Oder bei­des? Ewige Fra­gen hat sich das diesjährige Dockville-Fes­ti­val in Ham­burg aus­ge­sucht, gar Kierkegaard zitiert. HHF-Autorin Mila Heck­mann stand an diesem einen heißen Som­mer­woch­enende, das das Jahr bis­lang zu bieten hat­te, im Staub des Ham­burg­er Hafens und hat sich Fra­gen und möglichen Antworten gestellt.

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Wo begin­nt der Rah­men, der Dinge in Kun­st trans­formiert?
Blauer Him­mel und Son­nen­schein. Fes­ti­val­wet­ter! Doch ist es kein bloßes Musik­fes­ti­val, was dort in Wil­helms­burg stat­tfind­et. Die Ini­tia­toren des MS Dockville haben sich auf die Fah­nen geschrieben Kun­st und Musik in Ein­klang zu brin­gen.

Bere­its drei Wochen vor dem Musik­fes­ti­val am zweit­en August­woch­enende das Kun­st­camp. Dieses Jahr unter dem Mot­to “Entwed­er. Oder”. Die Kün­stler stell­ten dabei Fra­gen an die Besuch­er, die beim Spazier­gang über das Gelände zur Auseinan­der­set­zung mit dem Kunst­werk oder der Insti­tu­tion DOCKVILLE anre­gen soll­ten.

Was ist die Beziehung zwis­chen Kun­st und Leben?
“Das ist hier wie auf einem großen Kinder­spielplatz”, sagt meine Begleitung. Und er hat Recht.  Zusam­mengez­im­merte Hüt­ten, Baumhäuser, Schaukeln aus Stro­hballen. “Kommt, gle­ich ist Wasser­bomben­schlacht auf der Auto­bahn”, wird mir zugerufen.

Die Auto­bahn ist  ein maßstabge­treuer  Auss­chnitt ein­er deutschen Auto­bahn von den Kün­stlern Ole Utikal und Hannes Muss­bach.  Über­all glitzert es, Luft­bal­lons fliegen umher und Seifen­blasen wer­den in das Licht der Abend­sonne geblasen. Die “Torte”, eine neue Bühne, wurde von Tobias Großer aus einem Büh­nen­bild des Ham­burg­er Schaus­piel­haus­es  gebaut und mit  Sah­ne­häubchen und Rosendekor verziert.

Alles ganz schön bunt hier, aber es macht Spaß. Und das strahlt auch auf das Pub­likum ab. Dazu passen am frühen Son­ntagabend die jun­gen Nor­weger von Team Me mit ihren Hand­claps, sauber­erem Chorge­sang und flot­ten Melo­di­en. Das Sex­tett verbindet Indie-Pop mit klas­sis­chen Folkan­klän­gen auf eine liebenswert spielerische Weise, so dass das Pub­likum diese nor­wegis­chen Frohna­turen schnell in ihr Herz schließt. Aber nach 40 Minuten ist dieses Fest schon mit Abschuss der Kon­fet­tikanone vor­bei.

In welche Rich­tung müssen wir schauen?
Die Kulisse ist der Haupt­darsteller des MS Dockville. Der Blick auf den angeleuchteten Rethe-Spe­ich­er in der Nacht ist wohl eines der meist­fo­tografierten Motive auf dem Fes­ti­val. Als ein leer­er Con­tain­er­frachter in nur 20 Meter Ent­fer­nung am Gelände vor­beifährt und sein Horn betätigt, jubeln die Besuch­er. Zwis­chen Con­tain­ern, Spe­ich­ern und Krä­nen kommt eine gewisse Hafen­ro­matik auf.

Diesen Aus­blick haben James Blake, Hot Chip oder Max­i­mo Park als sie auf der Haupt­bühne,  dem “Großschot”, ste­hen. Drei große Namen der let­zten Jahre in der britis­chen Musik­szene, viele Besuch­er sind wegen ihnen zum Fes­ti­val gekom­men. Während bei Hot Chip und Max­i­mo Park am Fre­itag der Sound von der Bühne noch recht zaghaft daherkommt, wurde bei James Blake am Sam­stag noch ein­mal ordentlich nachgebessert.

Wie kreuzt man Lit­er­atur und Kun­st auf einem Musik­fes­ti­val?
Oder, was macht ein rus­sis­ch­er Roman des 19. Jahrhun­derts auf unserem Armen und Beinen?

Das Ham­burg­er Kün­stlerkollek­tiv “Krautzun­gen” hat in ein­er Art Gren­zs­ta­tion Posten bezo­gen. Sie haben das Ziel Tol­stois “Krieg und Frieden” Zeile für Zeile auf die Fes­ti­val­teilbe­such­er zu schreiben.

Die tem­porären Tat­toos mit schwarzem Stift, die Arme, Hälse und Beine der Fes­ti­valbe­such­er schmück­en fall­en auf und machen neugierig. Ich mache mit und meine Hand ziert für den Rest des Abends  “War ger­ade in dem lieblichen Alter- S. 50”. Auf dem Gelände ver­streute Roman­frag­mente und im Inter­net fotografisch wieder zusam­menge­fügt

Pla­giat oder Rev­o­lu­tion?
Im Son­nen­schein und all­ge­mein­er heit­er­er Som­mer­stim­mung hat­ten Mis­teur Valaire leicht­es Spiel bei den Zuhör­ern. Eine heit­ere Truppe fünf junger Män­ner aus dem kanadis­chen Mon­tre­al, die  mit Trompete, Sequen­z­er, Per­cus­sions, Turnta­bles, Schlagzeug, Bass und Key­boards in sämtlichen Musik­stilen wildern.

Das ist wed­er Elek­tro, noch Hip-Hop, Jazz oder Rock. Da darf dann auch mal aus heit­erem Him­mel Whit­ney Hous­tons “I will always love you” vom Band intonieren, bevor der Tanz-Beat wieder anges­timmt wird. Bei den vie­len recht ähn­lich klin­gen­den Elek­tro-Pop Bands an diesem Woch­enende, wurde man hier durch diese musikalis­che Wun­dertüte doch auf angenehme Weise über­rascht.

Warum möchte jed­er sicht­bar sein?
Fre­itag ca. 2 Uhr nachts auf der Bühne “But­ter­land”. Aérea Negrot erscheint im Pail­let­ten­kleid und trägt eine Kopf­be­deck­ung, die im Schein­wer­fer­licht wie die Schlangen der Medusa ausse­hen.  Zu elek­tro­n­is­chen Beats lässt sie ihre Stimme Nina Hagen-esque durch sämtliche Tonarten wan­dern.  Ihre Bewe­gun­gen wirken wie eine Voodooz­er­e­monie.  Diese Frau ist über­ra­gende Erschei­n­ung auf der kleinen Bühne.

Der­selbe Ort, dieselbe Uhrzeit, einen Abend später. Wabernde tiefe Bässe und spär­liche Beleuch­tung. Inmit­ten der Nacht ste­ht der  Kün­stler “Holy Oth­er”. Er gibt sich mys­ter­iös und hat sein Gesicht mit einem schwarzen Stoff­tuch umhüllt.  Alles, was er in diesem Moment von sich preis­gibt sind seine sphärischen Klänge. Man weiß von ihm keinen Namen und man ken­nt nicht ein­mal sein Gesicht.

Sind wir sich­er, dass das, was wir sehen, das ist was wir denken zu sehen?
“Der hat ja graue Haare bekom­men”, sagt jemand laut neben mir und meint damit Dirk von Lowt­zow. Tocotron­ic sind am let­zen Tag der Head­lin­er und der Abschluss des Pro­gramms auf der Haupt­bühne. Sie fan­gen gle­ich mit “Freiburg” an, dem ersten Song ihrer ersten Plat­te von 1995. “Ich bin alleine und ich weiß es und ich find es sog­ar cool. Und ihr demon­stri­ert Ver­brüderung”, eine über­ra­gende Textzeile.

Doch an diesem Abend mag der Funke zumin­d­est bei mir nicht so recht über­sprin­gen. Ich möchte mir die aus­ge­lassene Stim­mung nicht ver­miesen lassen und beschließe, dass das Fes­ti­val damit für mich vor­bei ist und trete dem Heimweg mit der S‑Bahn zurück an.

Kann durch Ver­sagen auch Poten­tial entste­hen?
Im let­zten Jahr war der Boden des Fes­ti­val­gelän­des durch anhal­tenden Regen der­art aufgewe­icht, dass es von den Besuch­ern kurz­er­hand in “Schlam­mville” umge­tauft wurde. Wege waren nicht bege­hbar und Büh­nen zeitweise nicht bespiel­bar.

Dieses Jahr  hat­ten die Organ­isatoren das Wet­ter auf ihrer Seite, sie kon­nten ein wun­der­bares Fes­ti­val auf die Beine stellen. Im Gegen­satz zu anderen Fes­ti­vals dieser Größenord­nung hat der Besuch­er hier nicht das Gefühl bloß ein zahlen­der Kon­sument zu sein. Wenn man sich darauf ein­lassen möchte, wird man hier noch zum mit­denken und mit­machen angeregt.

Was bleibt übrig?
“Dockville muss raus” hieß es noch vor ein paar Wochen, und “Dockville darf doch bleiben” war die Nachricht kurz vor dem Fes­ti­val.

Wie lange noch? Im Moment ist die Nutzung des Gelän­des für das Fes­ti­val noch bis 2014 zugesichert. Doch wie wird es dort im näch­sten Jahr ausse­hen? Das MS Dockville Gelände am Rei­her­stieg war von Anfang an einem ständi­gen Wan­del aus­ge­set­zt. Die Inter­na­tionale Garten­schau, die 2013 in Wil­helms­burg stat­tfind­en wird, klopft auch schon an die Tür.

Das Fes­ti­val hat das Glück – denn son­st würde es nicht existieren —  und gle­ichzeit­ig das Unglück auf ein­er Insel verortet zu sein, die von der Stadt­poli­tik dazu auserko­ren wurde, umgestal­tet und, wie man es so schön nen­nt, “aufgew­ertet” zu wer­den.

Ist der Kon­text rel­e­vant für die Kun­st­pro­duk­tion? Kann sie in uni­versellen Ebe­nen existieren, kann sie sich unab­hängig von ihrer Umge­bung machen, oder wird sie ständig wieder aktu­al­isiert?
Ich komme näch­stes Jahr gerne wieder vor­bei, um zu schauen, ob ich dann auch diese Frage beant­worten kann. Entwed­er  … oder …?

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