“Dabei hat man übersehen …”

Henning Ritters Notizhefte – ein Buch, das bleiben darf

Robespierres Auge? (Quelle: © magann - Fotolia.com)

Dieses Buch gehört dur­chaus zu den bemerkenswert­eren Erfahrun­gen, die ein zeit­genös­sis­ch­er Leser haben kann. Der raunende Ton, die spitzen Sen­ten­zen, der Kos­mos der Denker, in dem es sich bewegt, all das ist höchst unmod­ern, auf gar keinen Fall ist es modisch. Hen­ning Rit­ter, um den es hier geht, FAZ-Redak­teur, Ressortleit­er jen­er Rubrik “Geis­teswis­senschaften”, die einst den ver­gan­genen Ruhm dieses Blattes stützte und aufge­baut hat­te, ist ein Autor, den man get­rost als einen gelehrten Leser beze­ich­nen kann.

Er ist jemand, der genau und noch genauer schaut und seine Gedanken dazu notiert, Notiz-Hefte eben. Seine The­men und seine Lek­türe sind eben­so unmod­ern wie die Atti­tude; schon auf den ersten Seit­en fall­en Namen wie Spen­gler, Schmitt und Sieburg, diese sind vor allem auch Namen ein­er ver­lore­nen Epoche deutschen Intellek­tu­al­is­mus. Es ist ein Rück­blick in eine Zeit inten­siv­er Auseinan­der­set­zung mit Men­schen und Geschichte, mit Inhal­ten, die noch nicht “Con­tent” hießen, ein Blick auf einen unpop­ulären, einen ver­lustig gegan­genen Diskurs.

Schon hört man die Stim­men, die dieses Werk alt­modisch, gestrig nen­nen mögen, die jene Entschei­dung für die Leipziger Ausze­ich­nung in der Kat­e­gorie “Sach­buch” gar als unpoli­tisch und anachro­nis­tisch schmähen. Das ist Unrecht, denn das Buch ist sein­er Zeit in dem Maße voraus, wie es rück­wärts­ge­wandt erscheint. Und dafür gibt es vor allem einen guten Grund.

Dieser kleine, hüb­sch und unauf­dringlich aus­ges­tat­tete Leinen­band mit seinen bei­den gedeck­ten Lese­bänd­chen und dem blass­blau­grauen Schutzum­schlag wird – und das ist über­haupt nicht ver­messen zu behaupten – zu jenen Büch­ern gehören, die auch in näher­er Zukun­ft aus dem Bücher­re­gal genom­men wer­den und nicht nur dort ste­hen bleiben, zum intellek­tuellen Dekor sein­er Besitzer.

Voraus­ge­set­zt, dieser Leser ist bere­it, sich dem Autor zu stellen, nicht ein­mal, nicht zweimal, son­dern immer wieder. Und das ist schon eine Auf­gabe. Mitunter ehrfurcht­ge­bi­etend kommt Hen­ning Rit­ters Bele­sen­heit daher, der Bogen der Auseinan­der­set­zung span­nt sich von der Frühaufk­lärung bis in die klas­sis­che Mod­erne – damit ist dann, geis­tes­geschichtlich gese­hen, beina­he auch Schluß, eigentlich hören die Betra­ch­tun­gen bei Adorno auf. So müh­sam das scheint, gar intellek­tu­al­is­tisch läh­mend, stein­ern, so inter­es­sant und zugle­ich lebendig ist es auch. Die Entste­hung dessen, was unsere (post-)moderne Welt geprägt hat und immer noch bes­timmt, der Geburt der Aufk­lärung gilt Rit­ters vor­dringlich­stes Inter­esse.

Die Form ist häu­fig anek­do­tisch und mit­nicht­en müh­selig, die Geschicht­en und Geschichtchen, die den eige­nen Gedanken aus­lösen, sind mitunter boule­vardeske His­to­rien, die Essenz, und sei sie noch so knapp bemessen, ist den­noch fast immer bemerkenswert tre­f­fend. Sei dies eine Miniatur über die Malerin Elis­a­beth Vigée-Lebrun und prärev­o­lu­tionäre bäuer­liche Dro­hung gegen ihre herrschaftliche Kutsche; der Gedanke danach ist hell und klar, enlight­ened, aufk­lärend in Impe­tus und Inhalt, denn aus dem Zorn der Unter­drück­ten fol­gt für Rit­ter die immer­währende Hoff­nung: “Mor­gen wer­den wir sein, was ihr seid und ihr werdet sein, was wir sind.” – er nen­nt dies, demi-sêc, den “pop­ulären rev­o­lu­tionären Affekt.”

Oder sei es, kurz danach im Textfluß fol­gend, die beschei­dende und nicht unwahrschein­liche Infragestel­lung aller Inter­pre­ta­tio­nen über die berühmte Kleist-Stelle über die grü­nen Augengläs­er, (“Wenn alle Men­schen statt der Augen grüne Gläs­er hät­ten …”) die als Kern der kleistschen Kri­tik an der kan­tis­chen Ratio­nal­philoso­phie gilt. “Dabei hat man überse­hen (sic!), daß Robe­spierre grüne Bril­lengläs­er getra­gen hat. … Ob Kleist bei sein­er Frage an die grü­nen Bril­lengläs­er Robe­spier­res dachte und also wis­sen wollte, was wäre, wenn alle Men­schen wären wie Robe­spierre?” Es ist so ein­fach wie verblüf­fend, wie ver­meintlich­es his­torisches Klein­wis­sen zu ein­er völ­lig neuen Per­spek­tive führen kann. Solcher­lei geistige Kun­st­fer­tigkeit fiel dann auch den Leipziger Juroren auf, die ihm den diese­jähri­gen Buch­preis in der Kat­e­gorie “Sach­buch” zus­prachen.

Dieser Ideen, wen­ngle­ich die let­zt­geschilderte sicher­lich die plaka­tivste ist, sind viele im Buch. Es ist es ein Nach­schlagew­erk inter­essiert­er Gedanken, und das sichert gewiß seine Beständigkeit. Und genau deswe­gen ist es ein Buch für das Jet­zt und das Später, denn es ist nicht an irgen­deinen fraglichen, per­sön­lichen Ruhm gebun­den, son­dern an die Zeitläufte, aus denen es schöpft. Es ist der Zukun­ft zuge­wandt. Bes­timmt fol­gt auch bald ein E‑Book.

Hen­ning Rit­ter: Notizhefte (Ama­zon Part­ner­link)

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