Goethe. Faust. Ein Diktum, ein Mythos, die deutsche Seele.
Die Wirkungsgeschichte dieses Stückes, in Schullektüre, universitärer Exegese und aller weiterer Deutung ist spannender als der Text selbst. Wenn es einen unverrückbaren Bestandteil des deutschen Literaturkanons gibt, dann ist es neben Hamlet, dem anderen großen Zweifler der Weltliteratur, dieser.
In Nicolas Stemanns Gesamtfassung des Stücks, die uns vor einigen Spielzeiten als sogenannter Marathon serviert wurde, war das recht deutlich, die Dauerinterpretation war dort auch ein Dauerthema der postdramatischen Brechung dieses vielfach überhöhten Textes, in diesem Sinne aber auch ein echtes Erbe des deutschen Analysedrangs, der der Hauptfigur ja immanent ist.
Denn, kurioserweise ist dieser “Held” des deutschen Volkes, das ja als tatkräftig und organisiert bis zur fatalen Endlösung gilt, ein Zauderer, jemand, dessen Weltabgewandtheit den zentralen Impuls gibt für all das Zwingende, das folgen muss. Immerhin ist er dann auch in der Welterfahrung so konsequent, sich mit dem Teufel einzulassen.
Dass eine noch zu Lebzeiten Goethes entstandene französische und zudem extrem subjektive Variation des Stoffes keine grosse Furore machen konnte, zumal nicht im Ursprungsland des “Faust”, ist da eigentlich kein Wunder. Hector Berlioz Légende-dramatique “La Damnation de Faust” ist ein seltsames Zwitterwesen, irgendwo angesiedelt in der Grauzone zwischen dramatischem Werk und “Tableau vivant”. So richtig zur Aufführung war die Sache auch nicht gedacht, und so kennen wir vorwiegend repertoirebedingte Einspielungen dieses Stückes und kaum Inszenierungen.
Berlioz und seinen Co-Librettisten reichen einige markante Szenen – ihnen ging es wohl eher um die Erfassung von Stimmungen, von Standpunkten, von Texturen in der Erzählung. Ergänzend dadurch entsteht auch in der Musik ein markant-romantisches Konzept des Irrlichterns und Inkonkreten, ein hoher Ton der Verklärung und des Traumspiels, zu dem diese Einzelszenen, die beinahe Meditationen sind, verleiten müssen.
An dieser Stelle setzt Anthony Pilavachis Regiekonzept für “La Damnation de Faust” in Lübeck an, in der Behauptung von Visionen, von Parallelhandlungen und beigeordneten Bedeutungsräumen. Dieses Nebeneinanderstellen ist der Oper eigentlich im Wesen beigefügt, schon in der Gleichzeitig von Musik, Text und Spiel sind der Eroberung von Assoziationen Tür und Tor geöffnet. Damit kann das Musiktheater oft weit über die Grenzen des klassischen Schauspiels hinausgehen, nicht immer wird das, bedauerlicherweise, genutzt.
Pilavachi treibt dieses weltenöffnende Spiel offenbar schon seit geraumer Zeit auf die Spitze, in den letzten beiden seiner Inszenierungen am Lübecker Haus, dem außerordentlich solitären “Tristan” und dem elegant-verspielten “Wildschütz” – auch so eine mehr oder minder vergessene Perle – stapeln sich die verschiedenen Bedeutungsebenen übereinander wie die “Cel-Paintings” eines klassischen Animationsfilms, Folie über Folie, Sinn über Form, Geschichte an Geschichte. So es denn eine geplante Reihung dieses immer wieder komplex arrangierenden Inszenators gibt, und das muss man wohl annehmen, sind diese Werke Bestandteile eines Zyklus, den man nicht treffender als mit Sternheims Diktum “Aus dem bürgerlichen Heldenleben” bezeichnen kann.
Folglich treffen wir hie wie da auf Persönlichkeiten, die knietief im Gefängnis der drei bürgerlichen Kardinaltugenden Vernunft, Kontrolle und Pflichterfüllung sich befinden. “Sachlich sein, heißt deutsch sein” posaunte einst Diederich Hessling, Romanfigur des vermeintlich kleineren großen Sohnes der Stadt Lübeck, Heinrich Mann, allenthalben in die Welt hinaus. So lebt denn auch Faust, die Ikone des deutschen Bürgers.
Schon im Anfangstableau dieses Lübecker Bilderbogens ist das deutlich zu sehen. Faust, Matratzenlager, Gebirgsbaumwollunterhosen, Laptop, Bücher, all das in einer blauen, geschlossenen Studierstube, einer echten “Blue-Box”, von oben bis unten mit Formeln und Thesen beschrieben, eine fliegende Schreibschrift, etwa wie in den Notizen eines Forschers wie Albert Einstein.
Links noch ein hüfthoher Schädel, in den Augenhöhlen zwei Bierdosen, die im Bühnenlicht funkeln – das prototypische Vanitas-Symbol, jener barocken Darstellungsform der Unzulänglichkeit menschlichen, weil irdischen Strebens. Es ist das Generalthema dieser Umsetzung und bleibt über den ganzen Abend auf der Bühne von Stefan Heinrichs präsent.
Denn der schon beschriebenen einfachen Trias aus Musik, Text und Spiel fügt der Regisseur weitere szenische Ebenen hinzu. Vorhänge, Schleierzüge, Projektionen, bizarre und genau choreographierte Auftritte des Chores – den “Cels” scheinen in diesem Bühnenraum kaum Grenzen gesetzt, ein fortwährendes Parallelspiel ermöglicht Handlung, wo keine vorgesehen ist, macht Erklärungen auf, wo sie vonnöten sind und stellt allenthalben Fragen.
Mitunter entstehen in der Ebenenkomposition Bilder, die durchaus an Buñuels oder Cocteaus frühe Werke erinnern, surrealistische Kompositionen, tief verwurzelt in der ikonographischen Welt des Themenkomplexes. Es sind Bilder wie in der Osterszene, einer Einblendung eines aus krabbelnden Insekten bestehendes Kruzifix , die in alle Richtungen davonkrabbeln – sie stehen in barocker Tradition für die Kurzlebigkeit des irdischen Dasein.
Es ist dies eine Form der komplexen Bühnen-Multimedialität, wie sie sich ein Kind des digitalen Zeitalters vorstellte, indes weit über die Grenzen eines Bildschirms hinaus. Zudem öffnet sich der Spielraum des Lübecker Guckkastens nicht nur in die Tiefe, sondern auch in die Höhe, eine kompletter Handlungsstrang des ersten Tableaus – bei Berlioz “Plaines de Hongrie” überschrieben, ein Landidyll – artikuliert sich, an Zügen gehängt, über den Köpfen des eigentlichen Geschehens, eine Wirtshausszene.
Hier sehen wir auch Gretchen – bei Berlioz “Marguerite” – zum ersten Mal, inmitten der zechenden Landbevölkerung wird sie hier eingeführt als Mädchen aus dem Volk, das “schöne Fräulein” – diese goethesche Diktion findet sich an anderer Stelle wieder.
Wer hier, wie Faust, Natur erträumt, findet sie in einer Rückprojektion wieder, rauschende Wälder, Blätter, zunächst in satten Grüntönen, dann die Farben brechend, die Blätter wehen von den Bäumen, Herbst, Verfall, Vanitas auch hier. Schließlich endet das Idyll in einer Vergewaltigungsszene, am Ende fährt das befleckte Gewand des Opfers in den Himmel auf.
Diese Verschiebung des bei Goethe noch konkreten Spielverlaufs in die Welt von fantastischer Vision und Imagination, Abbild einer unterschwelligen Wahrnehmung, ist bei Berlioz bereits angelegt und wird hier weitergeführt, bis in eine Art präfreudianische Raffinesse der Charakterdeutung. Die Geschichte endet nämlich ungleich zynischer, keine Erfahrungsreise in hohe Sphären um der Erkenntnis willen, sondern durchaus radikal – denn hier fällt Gretchen/Marguerite in die Arme des Teufels, mutiert zur Femme fatale, rothaarig und im Paillettenkleid, Vidors Gilda ist dort ikonographisch nur ein paar Millimeter entfernt.
Das ist von der Biederkeit der mittelalterlichen Vorlage und der goetheschen Umsetzung sehr, sehr weit entfernt und näher an der Jetztzeit als darbende Mädchen am Spinnrad. Schließlich hat diese junge Frau einen eigenen Facebookaccount, an dessen Timeline wir eine Weile in der Rückprojektion teilhaben dürfen. In der Berufsbezeichnung des Profils liest man “Schönes Fräulein”. Klarer kann man solche prototypischen Figurenklischees nicht brechen.
Solch komplexe Erzählstrukturen lassen sich natürlich nicht mit Sängern verwirklichen, die schönsingend an der Rampe ihren Text abliefern. Und das Glück ist hier komplett auf der Seite des Spielleiters, ihm steht eine geradezu idealtypische Besetzung zur Verfügung, eine viriler Mephistopheles-Bass (Taras Konoshchenko), der trotz aller sängerischer Festigkeit eine für diese Lage bemerkenswerte Anfassbarkeit zeigen kann, ein Faust (Jean-Noël Briand), dessen lyrischem Tenor mit seinen schwierigen, von Berlioz verlangten Lagenwechseln in die Kopfstimme einiges abverlangt wird. Sein Faust ist erschütterbar bis ins Mark und bekommt nichts zu fassen, weder in der einen noch in der anderen Welt seiner Wahrnehmung – das ist zu hören.
Schließlich Marguerite. Über Wioletta Hebrowska-Klein, deren vibratoloser Mezzosopran die faustische Anfechtbarkeit nahezu filetiert, in seinem Gestus von Unerschütterbarkeit und Gradlinigkeit, über diese am Lübecker Haus gewachsene Sängerin kann man eigentlich nur noch staunen.
Spielverliebt, stets mit außerordentlicher Bühnenpräsenz gesegnet, bringt sie die entscheidenden Fähigkeiten mit, die diese hochkomplexe Form der Inszenierung erfordert. Auch der Regisseur weiß das nur zu genau, noch Minuten vor der Premiere sage er: “Ohne sie hätte ich es nicht machen können.”
An der Strahlkraft ihrer Figur bricht Faust, die Diskrepanz zwischen dem vibrierenden Tenor Briands und der geschmeidigen Direktheit Hebrowskas wird das ganze Dilemma dieses Stücks deutlich: Dieser Faust ist ein Waschlappen, es gibt keinen Grund zur Verklärung eines Grüblers mehr. Nicht einmal entsetzt kann man sein über die finale Wendung, so folgerichtig erscheint diese negative Apotheose Margueritens.
Der neue Lübecker GMD Ryusuke Numajiri bleibt erstaunlich blass, das Orchester bietet eine solide Leistung, von der Spielfreude auf der Bühne ist aber wenig aus dem Graben zu hören.
Anthony Pilavachi hat mit “La Damnation de Faust” nach nun 18 Inszenierungen seine letzte Arbeit in Lübeck vorgelegt, nach Meinungsverschiedenheiten mit dem Haus hat er am Premierenabend seine Zeit dort für beendet erklärt. Was vor allem bedeutet: Man wird viel weiter reisen müssen.
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