In der Tiefe

Der Regisseur Anthony Pilavachi verabschiedet sich mit "La Damnation de Faust" aus Lübeck

Kaum gezweifelt, da ist es schon vorbei (Bild: Jochen Quast)

Goethe. Faust. Ein Dik­tum, ein Mythos, die deutsche Seele.

Die Wirkungs­geschichte dieses Stück­es, in Schullek­türe, uni­ver­sitär­er Exegese und aller weit­er­er Deu­tung ist  span­nen­der als der Text selb­st. Wenn es einen unver­rück­baren Bestandteil des deutschen Lit­er­aturkanons gibt, dann ist es neben Ham­let, dem anderen großen Zwei­fler der Weltlit­er­atur, dieser.

In Nico­las Ste­manns Gesamt­fas­sung des Stücks, die uns vor eini­gen Spielzeit­en als soge­nan­nter Marathon serviert wurde, war das recht deut­lich, die Dauer­in­ter­pre­ta­tion war dort auch ein Dauerthe­ma der post­drama­tis­chen Brechung dieses vielfach über­höht­en Textes, in diesem Sinne aber auch ein echt­es Erbe des deutschen Analyse­drangs, der der Haupt­fig­ur ja imma­nent ist.

Denn, kurioser­weise ist dieser “Held” des deutschen Volkes, das ja als tatkräftig und organ­isiert bis zur fatal­en Endlö­sung gilt, ein Zaud­er­er, jemand, dessen Weltabge­wandtheit den zen­tralen Impuls gibt für all das Zwin­gende, das fol­gen muss. Immer­hin ist er dann auch in der Wel­ter­fahrung so kon­se­quent, sich mit dem Teufel einzu­lassen.

Dass eine noch zu Lebzeit­en Goethes ent­standene franzö­sis­che und zudem extrem sub­jek­tive Vari­a­tion des Stoffes keine grosse Furore machen kon­nte, zumal nicht im Ursprungs­land des “Faust”, ist da eigentlich kein Wun­der. Hec­tor Berlioz Légende-dra­ma­tique “La Damna­tion de Faust” ist ein selt­sames Zwit­ter­we­sen, irgend­wo ange­siedelt in der Grau­zone zwis­chen drama­tis­chem Werk und “Tableau vivant”. So richtig zur Auf­führung war die Sache auch nicht gedacht, und so ken­nen wir vor­wiegend reper­toirebe­d­ingte Ein­spielun­gen dieses Stück­es und kaum Insze­nierun­gen.

Berlioz und seinen Co-Libret­tis­ten reichen einige markante Szenen – ihnen ging es wohl eher um die Erfas­sung von Stim­mungen, von Stand­punk­ten, von Tex­turen in der Erzäh­lung. Ergänzend dadurch entste­ht auch in der Musik ein markant-roman­tis­ches Konzept des Irrlichterns und Inkonkreten, ein hoher Ton der Verk­lärung und des Traum­spiels, zu dem diese Einzel­szenen, die beina­he Med­i­ta­tio­nen sind, ver­leit­en müssen.

An dieser Stelle set­zt Antho­ny Pilavachis Regiekonzept für “La Damna­tion de Faust” in Lübeck an, in der Behaup­tung von Visio­nen, von Par­al­lel­hand­lun­gen und beige­ord­neten Bedeu­tungsräu­men. Dieses Nebeneinan­der­stellen ist der Oper eigentlich im Wesen beige­fügt, schon in der Gle­ichzeit­ig von Musik, Text und Spiel sind der Eroberung von Assozi­a­tio­nen Tür und Tor geöffnet. Damit kann das Musik­the­ater oft weit über die Gren­zen des klas­sis­chen Schaus­piels hin­aus­ge­hen, nicht immer wird das, bedauer­licher­weise, genutzt.

Pilavachi treibt dieses wel­tenöff­nende Spiel offen­bar schon seit ger­aumer Zeit auf die Spitze, in den let­zten bei­den sein­er Insze­nierun­gen am Lübeck­er Haus, dem außeror­dentlich solitären “Tris­tan” und dem ele­gant-ver­spiel­ten “Wild­schütz” – auch so eine mehr oder min­der vergessene Per­le – stapeln sich die ver­schiede­nen Bedeu­tungsebe­nen übere­inan­der wie die “Cel-Paint­ings” eines klas­sis­chen Ani­ma­tions­films, Folie über Folie, Sinn über Form, Geschichte an Geschichte. So es denn eine geplante Rei­hung dieses immer wieder kom­plex arrang­ieren­den Inszena­tors gibt, und das muss man wohl annehmen, sind diese Werke Bestandteile eines Zyk­lus, den man nicht tre­f­fend­er als mit Stern­heims Dik­tum “Aus dem bürg­er­lichen Helden­leben” beze­ich­nen kann.

Fol­glich tre­f­fen wir hie wie da auf Per­sön­lichkeit­en, die kni­etief im Gefäng­nis der drei bürg­er­lichen Kar­dinal­tugen­den Ver­nun­ft, Kon­trolle und Pflichter­fül­lung sich befind­en. “Sach­lich sein, heißt deutsch sein” posaunte einst Diederich Hessling, Roman­fig­ur des ver­meintlich kleineren großen Sohnes der Stadt Lübeck, Hein­rich Mann, allen­thal­ben in die Welt hin­aus. So lebt denn auch Faust, die Ikone des deutschen Bürg­ers.

Schon im Anfangstableau dieses Lübeck­er Bilder­bo­gens ist das deut­lich zu sehen. Faust, Matratzen­lager, Gebirgs­baum­wol­lun­ter­ho­sen, Lap­top, Büch­er, all das in ein­er blauen, geschlosse­nen Studier­stube, ein­er echt­en “Blue-Box”, von oben bis unten mit Formeln und The­sen beschrieben, eine fliegende Schreib­schrift, etwa wie in den Noti­zen eines Forsch­ers wie Albert Ein­stein.

Links noch ein hüftho­her Schädel, in den Augen­höhlen zwei Bier­dosen, die im Büh­nen­licht funkeln – das pro­to­typ­is­che Van­i­tas-Sym­bol, jen­er barock­en Darstel­lungs­form der Unzulänglichkeit men­schlichen, weil irdis­chen Strebens. Es ist das Gen­er­althe­ma dieser Umset­zung und bleibt über den ganzen Abend auf der Bühne von Ste­fan Hein­richs präsent.

Denn der schon beschriebe­nen ein­fachen Trias aus Musik, Text und Spiel fügt der Regis­seur weit­ere szenis­che Ebe­nen hinzu. Vorhänge, Schleierzüge, Pro­jek­tio­nen, bizarre und genau chore­o­gra­phierte Auftritte des Chores – den “Cels” scheinen in diesem Büh­nen­raum kaum Gren­zen geset­zt, ein fortwähren­des Par­al­lel­spiel ermöglicht Hand­lung, wo keine vorge­se­hen ist, macht Erk­lärun­gen auf, wo sie von­nöten sind und stellt allen­thal­ben Fra­gen.

Mitunter entste­hen in der Ebe­nenkom­po­si­tion Bilder, die dur­chaus an Buñuels oder Cocteaus frühe Werke erin­nern, sur­re­al­is­tis­che Kom­po­si­tio­nen, tief ver­wurzelt in der ikono­graphis­chen Welt des The­menkom­plex­es. Es sind Bilder wie in der Oster­szene, ein­er Ein­blendung eines aus krabbel­nden Insek­ten beste­hen­des Kruz­i­fix , die in alle Rich­tun­gen davonkrabbeln – sie ste­hen in barock­er Tra­di­tion für die Kur­zlebigkeit des irdis­chen Dasein.

Es ist dies eine Form der kom­plex­en Büh­nen-Mul­ti­me­di­al­ität, wie sie sich ein Kind des dig­i­tal­en Zeital­ters vorstellte, indes weit über die Gren­zen eines Bild­schirms hin­aus. Zudem öffnet sich der Spiel­raum des Lübeck­er Guck­kas­tens nicht nur in die Tiefe, son­dern auch in die Höhe, eine kom­plet­ter Hand­lungsstrang des ersten Tableaus – bei Berlioz “Plaines de Hon­grie” über­schrieben, ein Lan­didyll – artikuliert sich, an Zügen gehängt, über den Köpfen des eigentlichen Geschehens, eine Wirtshausszene.

Hier sehen wir auch Gretchen – bei Berlioz “Mar­guerite” – zum ersten Mal, inmit­ten der zechen­den Land­bevölkerung wird sie hier einge­führt als Mäd­chen aus dem Volk, das “schöne Fräulein” – diese goethesche Dik­tion find­et sich an ander­er Stelle wieder.

Wer hier, wie Faust, Natur erträumt, find­et sie in ein­er Rück­pro­jek­tion wieder, rauschende Wälder, Blät­ter, zunächst in sat­ten Grün­tö­nen, dann die Far­ben brechend, die Blät­ter wehen von den Bäu­men, Herb­st, Ver­fall, Van­i­tas auch hier. Schließlich endet das Idyll in ein­er Verge­wal­ti­gungsszene, am Ende fährt das befleck­te Gewand des Opfers  in den Him­mel auf.

Diese Ver­schiebung des bei Goethe noch konkreten Spielver­laufs in die Welt von fan­tastis­ch­er Vision und Imag­i­na­tion, Abbild ein­er unter­schwelli­gen Wahrnehmung, ist bei Berlioz bere­its angelegt und wird hier weit­erge­führt, bis in eine Art präfreudi­an­is­che Raf­fi­nesse der Charak­ter­deu­tung. Die Geschichte endet näm­lich ungle­ich zynis­ch­er, keine Erfahrungsreise in hohe Sphären um der Erken­nt­nis willen, son­dern dur­chaus radikal – denn hier fällt Gretchen/Marguerite in die Arme des Teufels, mutiert zur Femme fatale, rothaarig und im Pail­let­ten­kleid, Vidors Gil­da ist dort ikono­graphisch nur ein paar Mil­lime­ter ent­fer­nt.

Das ist von der Biederkeit der mit­te­lal­ter­lichen Vor­lage und der goetheschen Umset­zung sehr, sehr weit ent­fer­nt und näher an der Jet­ztzeit als dar­bende Mäd­chen am Spin­nrad. Schließlich hat diese junge Frau einen eige­nen Face­bookac­count, an dessen Time­line wir eine Weile in der Rück­pro­jek­tion teil­haben dür­fen. In der Berufs­beze­ich­nung des Pro­fils liest man “Schönes Fräulein”. Klar­er kann man solche pro­to­typ­is­chen Fig­uren­klis­chees nicht brechen.

Solch kom­plexe Erzählstruk­turen lassen sich natür­lich nicht mit Sängern ver­wirk­lichen, die schönsin­gend an der Rampe ihren Text abliefern. Und das Glück ist hier kom­plett auf der Seite des Spielleit­ers, ihm ste­ht eine ger­adezu ide­al­typ­is­che Beset­zung zur Ver­fü­gung, eine vir­il­er Mephistophe­les-Bass (Taras Konoshchenko), der trotz aller sän­gerisch­er Fes­tigkeit eine für diese Lage bemerkenswerte Anfass­barkeit zeigen kann, ein Faust (Jean-Noël Briand), dessen lyrischem Tenor mit seinen schwieri­gen, von Berlioz ver­langten Lagen­wech­seln in die Kopf­s­timme einiges abver­langt wird. Sein Faust ist erschüt­ter­bar bis ins Mark und bekommt nichts zu fassen, wed­er in der einen noch in der anderen Welt sein­er Wahrnehmung – das ist zu hören.

Schließlich Mar­guerite. Über Wio­let­ta Hebrows­ka-Klein, deren vibra­tolos­er Mez­zoso­pran die faustis­che Anfecht­barkeit nahezu filetiert, in seinem Ges­tus von Uner­schüt­ter­barkeit und Gradlin­igkeit, über diese am Lübeck­er Haus gewach­sene Sän­gerin kann man eigentlich nur noch staunen.

Spielver­liebt, stets mit außeror­dentlich­er Büh­nen­präsenz geseg­net, bringt sie die entschei­den­den Fähigkeit­en mit, die diese hochkom­plexe Form der Insze­nierung erfordert. Auch der Regis­seur weiß das nur zu genau, noch Minuten vor der Pre­miere sage er: “Ohne sie hätte ich es nicht machen kön­nen.

An der Strahlkraft ihrer Fig­ur bricht Faust, die Diskrepanz zwis­chen dem vib­ri­eren­den Tenor Briands und der geschmei­di­gen Direk­theit Hebrowskas wird das ganze Dilem­ma dieses Stücks deut­lich: Dieser Faust ist ein Waschlap­pen, es gibt keinen Grund zur Verk­lärung eines Grüblers mehr. Nicht ein­mal entset­zt kann man sein über die finale Wen­dung, so fol­gerichtig erscheint diese neg­a­tive Apoth­e­ose Mar­gueritens.

Der neue Lübeck­er GMD Ryusuke Numa­jiri bleibt erstaunlich blass, das Orch­ester bietet eine solide Leis­tung, von der Spiel­freude auf der Bühne ist aber wenig aus dem Graben zu hören.

Antho­ny Pilavachi hat mit “La Damna­tion de Faust” nach nun 18 Insze­nierun­gen seine let­zte Arbeit in Lübeck vorgelegt, nach Mei­n­ungsver­schieden­heit­en mit dem Haus hat er am Pre­mier­en­abend seine Zeit dort für been­det erk­lärt. Was vor allem bedeutet: Man wird viel weit­er reisen müssen.

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*