Eine kleine Buchhandlung in einem durch und durch bürgerlichen Stadtteil Hamburgs. Es ist Samstagvormittag, die bereits etablierten Anfangsdreißiger hasten nebenan durch die Reihen des Supermarktes, um für das Familienwochenende reichhaltig ausgestattet zu sein. In der Buchhandlung ist es voll, am Presenter-Tisch liegen die Stapel mit den Neuerscheinungen aus. Ein Paar, gut gekleidet, vielleicht Ende dreißig, sucht offenbar ein Geschenkbuch, die Frau greift nach einem Buch mit etwas comichaften Titelbild. Ihr männlicher Begleiter sagt zu ihr: “Das kannst du nicht kaufen, das ist ein Nazi.”
»Herbertshöhe.
Hauptstadt der Kolonie, vierhundert Deutsche lebten hier, aber am Pier kauerten fast nur Chinesen, Malaien, Melanesier. (…) Er schloß kurz die Augen und war im deutschen Herbst, ein fürchterliches Gefühl, der Winter drohte, die Tage wurden kürzer, am Ende lauerten Kälte und Tod. Panisch riß er die Lider auf. Alles war fremd, licht und gut.«
Der Held der Geschichte kommt an in Deutsch-Neuguinea, irgendwann vor dem ersten großen Krieg, will eine Kolonie der Kokovoren, der Kokosesser gründen. Er ist eine merkwürdige Gestalt:
»Dieses sonnenverbrannte Gesicht, die schulterlangen Haare, eingehüllt in ein Wollkleid, ein Spinner, aber nicht unsympathisch, aber doch fremd, wie er hier am Tisch saß und seine Bücher wollte.«
Es ist eine ferne, seltsame Geschichte, die der Autor da erzählt, von August Engelhardt, ein deutscher Aussteiger am Beginn des 20. Jahrhunderts, der sein Glück in der Südsee versucht. Neupommern, Blanchebucht und Herbertshöhe, das waren die Namen damals – und obwohl das alles erfunden wirkt: Es ist mehr oder weniger wahr, die Namen gab es wirklich, und auch August Engelhardt gab es wirklich. Was will der Autor mit dieser kruden Geschichte erzählen? (…)
Irgendwann schleicht sich hier ein anderer Ton in die Geschichte, eine unangenehme, dunkle Melodie.
»“Genau”, sagte Ulrich, brauchte allerdings lange dafür, er war zu aufgeregt, verdammtes Stottern, “durch das Nacktgehen wird die körperliche Ertüchtigung und die sittliche Entartung des Volkes verhindert. Statt dessen fördert es die Heranziehung eins gesünderen, schöneren und edleren Menschengeschlechtes. Das genau ist für uns der Sonnenorden.”«
Eine Spalte öffnet sich in diesem Satz. Unter der Oberfläche raunt es: “Die Heranziehung eines edleren Menschengeschlechts”? Durch den schönen Wellenschlag der Worte scheint etwas durch, das noch nicht zu fassen ist …
Das Buch, das verschenkt werden sollte, ist Christian Krachts Roman “Imperium” und der warnende Begleiter hatte mit Sicherheit Georg Diezens Artikel “Die Methode Kracht” im SPIEGEL gelesen. Aus diesem Artikel stammen die obigen, kursiv gesetzten Einzüge beinahe wortwörtlich. Allein, die Originalzitate stammen nicht etwa aus dem vom Kritiker vernichteten Buch, sondern aus einem anderen Roman. Schon im Frühjahr 2011 erschien bei Eichborn “Das Paradies des August Engelhardt”, geschrieben hat es der allseits renommierte Freiburger Autor Marc Buhl.
Der nun ist mitnichten “ein Türsteher der rechten Gedanken”, wie da im SPIEGEL stand, sondern hat in den letzten Jahren mit gut geschriebenen Romanen zu historischen Themen auf sich aufmerksam gemacht. Er ist einer der Stillen im deutschen Literaturbetrieb und gewiß jeglicher rechten Parteinahme unverdächtig.
Der Stoff allerdings scheint im höchsten Maße verdächtig zu sein – ein paar junge Leute, die in Zeiten des politischen und gesellschaftlichen Stillstands nach neuen Ideen suchen, hat hier offenbar nicht nur die Zeitgenossen aus dem Wohlsein des bürgerlichen Daseins gerissen. Es ist das klassische Dilemma einer Entwicklungs-Debatte, einer “Querelle des Anciens et des Modernes” zwischen Vätern und Söhnen, der Drang nach Ausdruck und Neuerfindung, die der Held der beiden Romanciers auslebt und es ist das Gefühl des Stillstands, das beider Held August Engelhardt antreibt. Und wie immer ist es die Angst vor dem Neuen, dem Anderen, daß die Gesellschaft davor erschaudern läßt.
Die eigentliche Fragestellung in der Debatte, die dem von dieser Besprechung ausgewiesenen Generalverdacht gegen den Autor Kracht folgte, ist jedoch nicht die nach der Integrität des Autors. All die gesammelten Vorwürfe, die Themenwahl, die verdächtigenden Korrespondenzen, das nunmehr in Zweifel zu ziehende Vorwerk erscheinen nichtig, sucht man nach den Motiven des Gebrauchs der stärksten Waffe, die es in diesem Land seit über 60 Jahren in der Kritik geben kann.
Dieser Vorwurf, einmal über einen Autor ausgesprochen, wirkt unendlich schwer. Das bürgerliche Paar, das den Autor nicht gelesen hat, weil es das Urteil über ihn bereits kannte, ist nur ein Anfang. Christian Kracht hat Lesungen abgesagt ob dieses Makels und man kann sich an den Fingern einer Hand abzählen, daß er bei den für Autoren so wichtigen Preis- und Stipendienvergaben lange übergangen werden wird.
Konservativismus, das liegt schon in der Wortbedeutung, will bewahren. Alles, was den Verlust eines erreichten Status bedroht, macht dem Konservativen Angst. Sein Hang zum Vergangenen ist stark, Neues wird oft als Bedrohung empfunden. Lag dieser Hang in der Gesellschaftsmeinung bislang in der Hand älterer Herrschaften, deren Drang zu Novitäten und Veränderung bereits erschöpft war, hat sich in Deutschland in den letzten Jahren das Bild verändert.
Eine Generation von satten Nachkommen, die Generation der aus den Aufbaujahren der Republik Herausgewachsenen sitzt mittlerweile an den Schaltstellen von Medien und Politik. Es haftet ihnen eine seltsame Lähmung an, der verklärende Blick zurück ist á la mode und vererbt sich bereits in die nächste Generation. Die Welt wird zunehmend als Bedrohung empfunden, die Gefahr, das Erbe der Väter zu verlieren, ist allgegenwärtig. Der Schrecken der Veränderung lauert überall, die Empörung bei Eingriffen in diese Wohlstandswelt ist stetig groß. Noch nie hat man den Ausruf “Nicht mit mir!” in dieser offenbar bedrohten und zugleich wohlhabendsten und eigentlich sorglosesten Gesellschaft, die dieses Land je erlebt hat, so oft gehört.
Wenn Grenzverletzung, dann soll sie bitteschön kontrollierbar sein. Auf jeden Fall in der Kunst, wenn alles andere schon nicht funktioniert. Ist diese anders oder verletzt gar den Besitzstand des Konservativen, dann ergreift Angst die Szene. Und die ist der Geist, aus der diese vollkommen überflüssige, aber bezeichnende Debatte schöpft. Wir befinden uns mitten in der Restauration und hören die Stimme des Mittelmaß.
Christian Kracht muß für den restaurativen Menschen die fleischgewordene Provokation sein. Äußerlich im Gewand des Dandys, im Tweed, den Scheitel akkurat gezogen, seine Figuren wie in “Faserland” (1995) im Yuppiegewand (“Barbourjacke”) champagnersaufend auf Sylt – das ist eigentlich eine sichere Sache und so unbekannt nicht. Um so verstörender sind die Brüche bei diesem Autor, die ironische Distanz, die federnde und elegante Sprache, die Themen, die Tarnung. Und der immer wieder aufblitzende Humor. Das ist auch so in “Imperium”, das Buch, um das es eigentlich geht. Es lullt einen ein mit seinem singenden, sonoren Ton, dem Wohllaut seiner Formulierungen, seiner Exotik und beschreibt dabei Scheitern und Zusammenbruch der Gesellschaft im Kleinen wie im Großen.
Die Subkolonie des August Engelhardt, der eingangs beschriebene dürre Mann in Deutsch-Neuguinea, scheitert genau an dem Stillstand, aus dem er und seine Kokos- und Sonnenanbeter fliehen und ausbrechen wollten. All diese Idealisten tragen ihr Erbe der Väter in sich, die Gesellschaft, aus der sie gekommen sind, sie sind ihrem gemeinschaftlichen Scheitern ausgeliefert. Und wie die preußischen Insulaner zwangsläufig, in ihrer Vermessenheit, alles besser machen zu können, in die Zerstörung ihres Traumes vom besseren Leben steuern müssen, in gleichem Maße erstickt das deutsche Imperium, das groß sein wollte, an der Hybris und dem Herrschaftsstreben dieser Zeit. Und die nächste Drehung der Schraube ist bereits angekündigt, der Schritt in das “große Finsternistheater”, das hier natürlich bereits angekündigt ist.
Die Unausweichlichkeit der Geschichte des 20. Jahrhunderts, der Sog der Zerstörung, steht hier an seinem Anfang. Und das hat noch nie jemand auf so farbig-virtuose Weise deutlich gemacht wie dieser Autor. Es ist sicherlich ein Experiment, diesen Weg zu wählen, weit abseits vom Pfad eines moralisierenden Realismus. Doch Christian Kracht ist ein großer Fatalist, vielleicht der größte seiner Generation. Hinter all der bunten Fassade, dem schwadronierenden Erzählen, dem exotischen Sujet, der Aventure, lauert stets die Apokalypse, ob auf Sylt oder der Palmeninsel Kabakon. Er liebt vielleicht die Menschen nicht, aber er zeigt sie deutlich in ihrer Fehlbarkeit und Selbstüberschätzung. Das ist verstörend und macht die Angst, die ein gutes Buch machen kann. Und es scheint ein rotes Tuch zu sein, für jene, die die Angst bereits haben.
Christian Kracht hat seine Lesung aus “Imperium” in Hamburg am 20. April, wie andere zuvor schon, abgesagt. Wahrscheinlich freut das Einige. Das ist der wirkliche Skandal.
Christian Kracht:
Imperium
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Marc Buhl:
Das Paradies des August Engelhardt
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Sehr schön, danke!