Radiowellen sind die allerseltsamsten unter den Gesellen, die Stimmen aus fernen Gefilden tragen. Die Skalen der Rundfunkgeräte, deren Glimmlampen goldschimmernde Skalen beleuchten, künden von merkwürdigen Stationen, die in der Ferne liegen: Beromünster, Hilversum I, Hilversum II. Die unsichtbaren Wellen haben es auch noch schwer, zu ihren Empfängern zu kommen, es rauscht und surrt und pfeift, unbestimmte Töne aus einem unbestimmten Raum in der unsichtbaren Welt. Das schafft Sehnsüchte und Hoffnungen und ist doch ein verlässlicher Klang, gegen die Stille, die sonst herrschen würde. Die Thalia-Bühne in Christianes Pohles “Drei Schwestern” ist voll von den Empfängern dieser Aussenwelt, voller goldener Skalen und voller Töne aus dem weiten Raum. Andrej Sergejewitsch Prosorow (Sebastian Zimmler), Çechovs Verhuschter, hängt an diesen Geräten, ruft Klänge aus ihnen hervor, Geräuschfetzen unbestimmter Herkunft und voller Nachhall. Wenn das Radio nichts mehr hergibt an Illusionsakustik, greift er in den leeren Klangraum, zum Theremin, jenem Instrument des Unfassbaren, das mit Hand und Körper im Nichts, in der elektromagnetischen Welle gespielt wird.
Es ist nicht der Raum, der diesen Abend bestimmt, obgleich der eindrucksvoll genug ist – ein hochgebauter Dachboden, mächtige Balken, die zwei Ebenen tragen – sondern die Radiowellen, die unsichtbaren Illusionsräume des Stückes. Es wird ununterbrochen geredet bei Çechov, man will, man kann, man muss, und man kann doch nicht. Die drei Schwestern und das ganze andere Personal quatscht sich die Welt zurecht und in die Illusion des Unbestimmten und Fremdbestimmten hinein. Die Sehnsucht nach der grossen Stadt, in der man es besser hat als am Ort des Seins; die Liebe, die kommt, die ist, die nie wird; die Karriere, die nie war und doch hätte sein können – alles geht und geht nicht. Man “philosophiert”, so steht es geschrieben, bei Brasch, bei Çechov, im Leben. Es ist Geschwätz, Indifferenz, ja eigentlich Interferenz, Überlagerung zwischen der Verhinderung und der Wahrnehmung des Seins.
Da sind ein paar wunderbare Schwätzer auf der Bühne. Die jungen Mädchen, Schnöink, Hagmeister, Seifert. Die Kerle, Simon, Niehaus, Greis. Josef Ostendorf. Und Victoria Trauttmannsdorff. Die darf mal nicht die hysterische Säuferin mit Gewaltambitionen wie im deutschen digitalen Bildersturm geben, wie just am Aufführungsabend wieder im Tatort zu sehen, sondern ihre ausgereifte und höchst intelligente Kunst zeigen. Sie macht kleine Dinge zu Großen, Sprache zur Stimme und Fassaden zu Fenstern.
Es ist wirklich die reine Freude, sich auch die kleinen gestischen Manierismen anzusehen, die sie sich gönnt. (“Hier rein – da raus …”) Ein anderer “alter” Thalia-Recke, Hans Kremer, steht ihr in nichts nach. Dem reicht eine Szene für seinen Militärarzt, um die Erkenntnis des Stückes in die Welt zu würgen. Was für ein Trinker!
Christiane Pohles Schwesternwelt scheint so ganz und gar stimmig zu sein. Die Tonteppiche, die ein wenig an die akustischen Atmosphären Andrea Breths erinnern mögen, die sorgfältig ausgewählte Musik der Indifferenz – Strass, Ravel, Pärt, die immer wieder aus den Geräten tropft. Die weitere Entfremdung, Textteile aus dem Off rieseln zu lassen, synthetische Stimmen aus der Frühzeit der Computerära, alles schön, alles weit entfernt und möglichst indirekt. Die Zahlenkolonnen aus dem Rundfunkempfänger, unverständliche Spionagecodes aus den Tiefen des unendlichen Äthers. An all das klammern sich die Figuren, hangeln an der Illusionswelle entlang, erstarren immer wieder zu statischen Tableaus, halten inne.
Indes – irgendetwas funktioniert daran nicht, oder vielleicht auch nicht so ganz. All die Sorgfalt, die auf die Dezentrierung der Figuren und ihrer Beziehungen gelegt wird, wirkt gelähmt, etwas neben der Spur. Winzige Verschiebungen im Timing, die erst sichtbar werden, wenn Trauttmannsdorff und Kremer aus sich heraus den Rhythmus verändern, bringen das an sich so schlüssige Konzept ins Schlingern. Da wo es ein wenig haken könnte, wird geglättet, rangespielt, die hilflose Suche nach der Pointe zu schnell aufgegeben und der Einsatz gemacht. Das ist zugegebenermaßen geringfügig, zieht aber Wirkung nach sich. Wenn es noch ein wenig besser ginge, wäre es wohl gut. Es bleibt ein wenig Hoffnung, oder?
“Und morgen wird die Sonne wieder scheinen,
und auf dem Wege, den ich gehen werde,
wird uns, die Glücklichen, sie wieder einen
inmitten dieser sonnenatmenden Erde…
Und zu dem Strand, dem weiten, wogenblauen,
werden wir still und langsam niedersteigen,
stumm werden wir uns in die Augen schauen,
und auf uns sinkt des Glückes stummes Schweigen …”
Straussens bürgerliche Morgenmusik, hier kann man sie noch einmal hören. Und für einen Moment den Schnabel halten und über Çechov nachdenken. Wohlgemerkt, nach denken, nicht “philosophieren”.
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